Religionsgeschichtlich und biblisch betrachtetForum Ostarrichi 2000
I. Hinführung und Exposition(Zur Idee des Menschen: das Gesetz und das Humanum)Aristoteles (384/3-322/21 v. Chr.), ein "Meister des Wissens", nach Dante il maestro di color che sanno, hatte sein Netz über alles Wissenswerte seiner Zeit geworfen und nichts unberührt gelassen. Wie Platons Schatten liegen die seinen auf den Jahrhunderten des Abendlandes. Thomas von Aquin wird die aristotelische Philosophie in den Dienst seiner Theologie stellen und damit die Scholastik prägen. In der "Nikomachischen Ethik" skizziert Aristoteles unter anderem die verschiedenen menschlichen Charaktere wie den Mutigen, den Neidischen, den Freigebigen, den Geizigen u. a. m. All seine Porträtierkunst aber verschwendet er am Bild des "Hochgemuten", des megalopsychos, der es auf sich nimmt, auch allein mit sich im weiten Land seiner Seele weilen zu können. Er ist damit anderer Ansicht als Platon, der schreibt: "Der Mensch, der allein lebt, hat entweder etwas von einem Gott oder einem Tier an sich." Aristoteles widerspricht und sieht im Menschen unersättliche Sehnsüchte wohnen. (vgl. Studahl: "Alles macht sich der Mensch in der Einsamkeit zueigen, nur nicht Charakter.") In der Nikomachischen Ethik (X 1177b 31) fasst Aristoteles den Gedanken der Menschlichkeit des Menschen dahin, der Mensch solle sein Denken nicht auf das nur Menschliche und Sterbliche, sondern nach Möglichkeit auf das Unsterbliche richten, weil er in der Vernunft, im Geist ein Göttliches, Unsterbliches in sich trage, das an Umfang nur gering sei, an Kraft und Wert aber über alles hinausrage und als unser eigenstes, wahres Selbst, in dem der Mensch "am meisten Mensch" sei, ihm auch die höchste Selbstverwirklichung verbürge. Aristoteles, neben Platon der bedeutendste Philosoph der Antike, habe einmal ein Loblied auf die Gerechtigkeit gesungen und den gerechten Menschen als den wahrhaft menschlichen Menschen, ja als den Höchstfall von Menschsein gesehen: "Weder der Abendstern noch der Morgenstern sind so wundervoll wie die Gerechtigkeit." Warum? Weil sie das geordnete Zusammenleben der Menschen ermöglicht und den Reichtum der zwischenmenschlichen Lebensbeziehungen schützt und fördert. Man kann diesen Grundbegriff unter dem Aspekt der Tugend sehen, - Tugend, ein Wort, das heute geradezu diffamiert ist und "fast nur noch in ironischer Signalisierung lebend" zu sein scheint (H.-G. Gadamer). Und doch ist sie letztlich eine wertbestimmte Grundhaltung gegenüber dem Humanum und unverzichtbar für dessen Verwirklichung. Die Tafel der vier Kardinaltugenden (Gerechtigkeit, Tapferkeit, heute personale Stabilität als "Heilbehalten der Sinne", sowie Besonnenheit bzw. Klugheit), haben maßgeblich das abendländisch-christliche Ethos gestaltet und wurden durch die Kirchenväter Ambrosius und Augustinus durch die drei göttlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe bereichert. Gerechtigkeit aber ist eine Grundidee des Gesetzes und Grundverfassung des Sozialen. Sie reicht auch in die religiöse Dimension: wie kann der Mensch gerecht sein und wie soll der Mensch gerecht handeln? Gerechtigkeit soll die elementaren Lebensverhältnisse bestimmen, das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, das Verhältnis des Menschen zu seiner sozialen und natürlichen Umwelt und das Verhältnis des Menschen zu seinem Gott. Alle drei sind aufeinander bezogen und rücken die grundlegenden Lebensvollzüge in einen gedeihlichen Beziehungsreichtum. Vier Quellkräfte also speisen das griechische Menschenbild, damit es sich im praktischen Vollzug als wahrhaft menschenwürdig gestalte und zwar durch Einsicht, durch den die Tapferkeit einschließenden Hochsinn, durch den sozialen Sinn, der sich im freien Wohltun wie in der Gerechtigkeit ausweist, sowie schließlich durch das naturhafte Gefühl für Maß und Schönheit, das der Sittlichkeit das Menschen auch die Selbstbeschränkung und Selbstbescheidung zur Pflicht macht. Ferner gehört zum Menschsein als seinem Wesen zugehörig die Beschäftigung mit den Künsten und Wissenschaften. Panaitios, Schulhaupt der Mittleren Stoa, erzählt die legendarische Anekdote von Platon, wie er mit seinen Gefährten nach einer Seefahrt an einer unbekannten Küste gelandet war, sich durch die bebauten Äcker noch nicht aller Besorgnis enthoben fühlte, sondern erst, als sie im Sand geometrische Figuren entdeckten, seinen Gefährten zurief, sie könnten getrost sein, denn er sähe die Spuren von Menschen. Wolfgang Schadewaldt hat gezeigt, wie dieser dann der abendländischen Gesittungsgemeinschaft von Cicero vermittelte Humanitätsbegriff von der Würde des Menschen ("de dignitate hominis") letztlich religiöser Natur ist und in den alten Vorstellungen der Gestalt Apollons wurzelt, des Gottes von Delphi und der damit zusammenhängenden Theologie. Hier fand die Idee des Humanum, das "anthropinon", ihre frühe Prägung. Apollon versinnbildet den Menschen, der sich aus seiner Abhängigkeit vom chthonisch Naturhaften gelöst hat. Apollon ist der Gott der Polis-Zivilisation und ihres verfeinerten Stils, der Gott der Mäßigung und des Rechts. Im Gegensatz zur archaischen und dionysischen Strömung im hellenischen Weltbild ist er die mythische Verkörperung der griechischen Klassik. Auf einer orphischen Sakramentalschale aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert wird der hyperboräische Apollon dargestellt mit einer Lyra in der Hand und einem Greif zu seinen Füßen, ein Hinweis auf den Initiationsweg des Adepten: denn dieser weiß nun über den Beweger hinter dem Bewegten. Die Lyra in der Hand ist Hinweis auf die ewigen Formen, die pythagoreische Harmonie der Sphären, manifest in allen Phänomenen wie Platons "universale Ideen", während der Greif das Emblem des Adlers als des Sonnenvogels mit der Kraft das Löwen verbindet. Die drei Grazien aber verweisen auf die drei Aspekte der menschlichen Seele vor diesem Gott: die Euprosine, die Freude vergegenwärtigt das die Welt bewegende göttliche Wohlwollen; Aglaia, der Glanz, blickt in das Antlitz des Gottes und ist Hinweis der Rückkehr der menschliche Seele zum Licht; und Thalia, der Überfluss, ist Ausdruck des zwischen beiden sich vollziehenden Ausgleichs. Überindividuelles wird in erfahrbare Bilder gekleidet und spiegelt mythisch die Urgründe der Menschenseele und die Urnormen und Urformen des Lebens. "Es ist das zeitlose Schema, die fromme Formel, die in das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewußten seine Züge repräsentiert", schreibt Thomas Mann treffend. Aus dem archetypischen Reservoir von Bildern, dem Stoff, aus dem die Träume gemacht sind, füllt sich die menschliche Seele mit den Gestalten und Ereignissen des Mythischen. Zum Dionysischen: Der dionysische Kult, ein mystischer Vegetations- und Lebenskult, lässt den Menschen die unmittelbare Gottwerdung erleben. Seine Erscheinungsweise spiegelt die Kalenderembleme des dreigeteilten Bauernjahres, wenn er im Winter als Schlange, im Frühjahr als Löwe und zur Sommersonnenwende als Stier, Ziege oder Bock geboren wird. Das Gastmahl Platons, das alle Renaissancen des Idealismus mitgetragen hat, begibt sich in seinen Reden auf das Gebiet des Eros und des Dionysos. In die Logoswelt des Rundgesprächs bricht in der Alkibiades-Szene des trunkenen und ichbefangenen Jünglings, der von einem anderen Gelage kommt, das Rauschhafte ein. In seiner großen Preisrede auf Sokrates huldigt Alkinades diesem Protagonisten Athens und vergleicht ihn mit dem Satyrn Marsyas wegen der inneren, verzaubernden seelischen Schönheit, die in einer äußeren hässlichen Hüllung, ja unter der Maske eines Waldschratts verborgen ist. Das wahre Schöne hat einen bestürzenden, existentiellen Charakter. Sokrates, der das von Diotima Erschaute wiedergibt, spricht von den großen "Mysterien" der Liebe, die sich als Aufstieg vollziehen durch einen immer größeren Prozess der Abstraktion und Loslösung des Geistes von der materiellen Schönheit. Das ist platonische Ästhetik. In deren Ontologie sind Wahrnehmung und Erkenntnis geschieden und damit der sinnliche Augenschein der Dinge einerseits und ihre eigentliche (ideelle) Wesenheit andererseits. In diesem Bezugssystem von Bild-Abbild und Urbild beruht das metaphysische Modell, in welchem aller Bezug auf das Noetische gedacht wird und eine Zweiung statuiert zwischen einem jenseitig-intelligibilen und einem diesseitig-"sinnenhaften" Bereich (vgl. den hiesigen kaloV bezeichneten abbildhaften Kosmos - Tim. 29a 2-3 als Abbild des jenseitigen eudaimwn JeoV genannten - Tim. 34b 8).
II. Die Idee des Menschenund die delphische TheologieIn der Antike war die "Idee des Menschen" an die delphische Theologie der Menschlichkeit und des Gottes Apollons gebunden, der neben seinem Vater Zeus die höchste Göttlichkeit des Göttlichen verkörperte, die Reinheit und die letzte Entschiedenheit des Geistes. Die "delphischen Sprüche" (delphika parangelmata) wiesen den Menschen zunächst in seine Sterblichkeit ein: Gnothi Seauton, Thneton Onta, erkenne dich, Mensch, als Sterblichen. Sophokles bezeugt diese Maxime delphischer Weisheit in dem "Bedenke das Sterbliche" (thneta phronein; Frg. 590) und sieht den Menschen in seinem "Sein zum Tode", einem Innesein, in welchem er sich in seinem Denken, Fühlen, Handeln im Horizont seiner sterblichen Begrenztheit verhalte, d. h. aber "menschlich" verhalte. Weitere Maximen sind: Nicht zuviel (meden agan); Auch Pindar, wenn er den Gipfel menschlicher Leistung preist, lenkt immer wieder den Blick zurück auf die Hinfälligkeit, Vergänglichkeit, Sterblichkeit des Menschen: "Sterbliches Sterblichen geziemt!" thnata thnatoisi prapei! (Istm. Ode V; Nem. Ode XI; Pyth. Ode III). Und Sophokles, in König Ödipus 1186: "Io! Geschlechter der Sterblichen! Auch das "Wissen des Nichtwissens" des Sokrates, den das delphische Orakel für den "Weisesten" erklärt hatte auf seinem Weg der Wahrheitssuche und Menschenprüfung, ist delphische Theologie. Gesetze gibt es bei allen Völkern und zwar in den mannigfachsten Formen, um die kultische und soziale Lebensordnung zu regeln. Wie kann der Mensch lebensgerecht sein und wie kann er gottes/göttergerecht sein? Ein Exemplum der griechischen Antike - das Chorwort: "Ungeheuer ist viel, doch nichts gibt der Antigone-Tragödie des Sophokles (497/6-406 v. Chr.)[1] das Thema mit dem Widerstreit und dem Untergang zweier Menschen und ihrer widerstreitenden Prinzipien, der Ödipus-Tochter Antigone und ihres Onkels Kreon, des Herrschers von Theben. Antigone widersteht als einzige dem Tyrannen, der Unmenschliches zum Staatsgesetz erhebt: Antigones Bruder, Polyneikes, soll unbegraben bleiben, Vögeln und Hunden zum Fraß. weil er seine Heimatstadt Theben mit Waffengewalt zu erobern trachtete und im Kampfe fiel. Antigone handelt dem Gebot Kreons zuwider, bestattet ihren toten Bruder und motiviert ihre Tat mit den ungeschriebenen Gesetzen der Liebe zu den Banden des Blutes und dem Gehorsam gegen die Götter ("Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da", V.523). Antigone, die Titelheldin, ist Inbild der unbedingten Hingabe an das göttliche Gebot und die mitmenschliche Pflicht und so die Urverkörperung der Sophokleischen, ja der abendländischen Humanität. Sie stellt die hingebungsvolle Liebe reiner Menschlichkeit und irdischer Demut dar gegenüber dem Vertreter der Macht, dem unmenschlichen Tyrannen, der das höhere Gesetz dem eigenen Recht unterordnen will. Der autokratische Kreon verkennt das Maß seines irdischen Amtes und muss daran zu Fall kommen. Die Tragödie "Antigone" ist ein Plädoyer für Menschentum gegen Menschensatzung[2]. Als Kreon sie zum Tod verurteilt, geht sie ungebeugt in den Tod. In hybrishafter Selbstüberhebung und eigensinniger Verblendung hatte Kreon seinen Willen mit dem Polisgesetz und dem Willen der Götter identifiziert und so gegen die göttliche Weltordnung gefrevelt. Im Verhalten Kreons gegen den warnenden Seher Teiresias wird Kreons Wesenskern und seine egozentrische Gottlosigkeit offenbar: der grausige Fluch des Sehers ist der Höhepunkt eines Geschehens, das sich unerbittlich vollzieht. Sophokles bringt in der Haltung Kreons die sich unter dem Einfluss der Sophisten anbahnende politische Entwicklung zur Darstellung: die Loslösung des Staats von den religiösen Grundlagen mit dem Sophisma vom Menschen als dem alleinigen Maßstab aller Dinge und des sittlichen Verhaltens. Der Chor der Alten spricht das Schlusswort: "Nie darf man gegen Gottes Gebot man freveln." Hegel deutet in seiner Ästhetik des Tragischen den Gegensatz der beiden Charaktere als den Konflikt von zwei gleichberechtigten Prinzipien von Staat und Familie. Der Stoff findet eine Reihe moderner Umdichtungen, so z. B. durch Jean Anouilh (1942), der die tragische Fabel zum Gefäß des Nihilismus macht und Antigones Herzensgröße in Weltverzweiflung travestiert. Er zeigt, wie Menschlichkeit gegen Terror aufsteht und die Wahrheit auch im Untergehen siegt. Kreon, Sachwalter der Ordnung, muss das ihm Aufgetragene und Notwendige tun, auch wenn er sich damit ins Unrecht setzt und sein Gewissen opfert. Antigone aber verkörpert den Willen zum Absoluten, kompromisslos bis zur Selbstvernichtung.
III. Der ägyptische Begriff der Maatals ius divinum und ius naturaleEine der Hauptwiegen des Kulturmenschen ist der potamische Bogen des sog. "Fruchtbaren Halbmondes", dem Bogen des Nil, - des Jordantales und der Landschaft des Euphrat und Tigris. In diesem Kraftfeld wird der Kulturmensch in der Doppelgestalt des Ägypters und des Sumerers in der Zwillingsgestalt geboren. In beiden ist der prägende genius loci ein Fluss: In Ägypten ist es der Nil-Strom, der einen Grabenbruch zwischen Lybischer und Arabischer Wüste durchfließt und eine der größten aller afrikanischen Oasen in der Nordostecke Afrikas schafft. Das Land selbst ist Nilufer und breites Delta, das als Unter-Ägypten viel Raum gewährt. Im mittleren Teil liegt westlich vom Flusse eine Oase von besonderer Größe, das Fayum. In diesem das nordafrikanische Sandmeer durchbrechenden schmalen Streifen, der vom Mittelmeer bis nach Nubien der Wüste Leben entreißt, an dem Faden, an dem das Leben Ägyptens hing, hatte die Kultur ihre frühe Wohnstatt gefunden und wurde Bühne für das dramatische Schauspiel des Ringens von Leben und Tod. Der Landstreif der "Schwarzen Erde", das Land Kamet oder Ägypten, wurde zur geschützten Wiege von sich ansiedelnden Stämmen und dann eines ganzen Volkes, das das Fruchtland der Ufer zu einem Rebus des Lebens machte: drei Monate eine schimmernde Perle, drei Monate eine schwarze Haut, drei Monate ein grüner Edelstein, drei Monate blankes Gold. - Die Auflösung des Rätsels heißt "Ägypten". Zur Zeit der Nilüberschwemmung schimmerte das überflutete Tal weit und breit wie eine Perle: zur Zeit der Aussaat glich die schlammbedeckte Erde einer schwarzen Haut; in den Monaten der wachsenden Saat leuchteten die Felder wie ein grüner Edelstein, und in den Erntemonaten wie blankes Gold. Im Tal des Nil, des Hapi, mit welchem die Vergangenheit in der stillen Ewigkeit dieses Stromes in die Zukunft hinüber fließt und auf ihrem Weg mit den Wellenschlägen leicht die Gegenwart berührt, an dieser "metaphysischen" Achse sucht der Mensch am Menschen das Unbekannte zu erschauen und wusste sich im Diesseits wie Jenseits vom lebenschaffenden Re, dem Sonnengott, angeleuchtet. Die Tallandschaften des "Fruchtbaren Halbmondes" als soziokulturelle Laboratorien und komplexe Kraftfelder früher Urkulturen sind einer Ellipse mit zwei Brennpunkten vergleichbar, wo der sich artikulierende Mensch alternative Möglichkeiten entwickelt in Stimme und Gegenstimme, Thema und Gegenthema: Das ägyptische Thema ist das Geborgensein im gewährten Leben, ist die Geborgenheit des Horus in Osiris, dem lebendigen Vatergott; das sumerische Gegenthema ist die Exponiertheit des Menschen gegenüber dem Unnahbaren, des sterblichen Dumuzi gegenüber der unnahbaren Unendlichkeit - und das in einer konfliktbeladenen Welt. Ägypten war schon für die Alten alt: als in Europa noch die Höhlen die Wohnstätte bildeten, hatte Ägypten schon drei Niedergänge hinter sich; man sprach in 5 Dialekten, besaß dreierlei Kalender. Ägypten ist fast zweitausend Jahre alt, als in Indien die Veden verfasst wurden; es ist mehr als 3000 Jahre alt, als Buddha und Konfuzius geboren wurden und das Parthenon erbaut wird. Um ernstlich von einer christlichen Ära sprechen zu können, müsste man schon das Jahr 3000 abwarten, sagte Papst Leo XIII., das ist die Zeitspanne zwischen dem 1. König Ägyptens, Menes, und der letzten Königin, Kleopatra. Die ganze Geschichte der USA, von La Fayette bis Clinton hat in dem kurzen Intermezzo der Herrschaft der Hyksos über Ägypten Platz. Herodot, der Vater der Geschichtsschreibung, berichtet im 5. Jh. v. Chr.: "Jetzt werde ich über Ägypten sprechen, weil es sehr viele Wunder enthält und vor allen Ländern Werke darbietet, die man kaum beschreiben kann." Im Niltal bäumte sich das Leben gegen das Vergehen und das wesenlose Hinabsinken in den Tod auf und suchte den Tod zu "behandeln". Mit ihrer Verweigerungstechnik, mit den (magischen) Bildwerken, gehauen aus dem unvergänglichen Stein, und mit Hilfe der kultischen Handlungen stellte der ägyptische Mensch sich dem Tod entgegen und suchte das Leben im Danach sicherzustellen. "Möchtest du für die Ewigkeit trinken können, gewandt gen Theben, das du erwähltest", heißt es auf einer Alabasterschale aus Tutenchamuns Grab. Den Ägyptern ging es nicht um unsterbliche Architektur, sondern um den geträumten Gigantentraum der Todesüberwindung, um das Weiterleben nach dem Tod, ungestört und unvergänglich. Es wird nicht das Organische gesucht, sondern das Anorganische des reinen Gebildes, die Pyramide, der Würfel, die in den geschlossenen Block eingeschriebene Statue, die mathematische Form. Die Gedankenwelt kreist um das Stirb und Werde: das große Wunder ist die Rückverwandlung des Sonnengottes Re vom 'Greis' in ein "kleines Kind". Damit erhält die Welt ihre anfängliche Jugend zurück, so wie der Tote in seinem Grab, der Stätte verjüngten Lebens. Im Zentrum des altägyptischen Rechts-Systems steht der religiöse Begriff der "Maat", der sowohl die kosmische Ordnung wie die Ordnung menschlichen Zusammenlebens und Handelns, die göttlich empfunden wurde, umgreift. Er umfasst das Gebiet der Moral und Ethik und wird mythologisch personifiziert in der Maat, der Göttin der Ordnung, der Wahrheit und Gerechtigkeit. Das gesamte Rechtswesen ist an diese ihre Doktrin gebunden und verpflichtet sowohl den König wie den einzelnen, jederzeit Maat zu erkennen und zu verwirklichen. Sie ist Richtschnur und Ziel allen Denkens und Handelns. Durch die Maat stand das Recht somit im Banne des Begriffs der Billigkeit, der Gesinnung zum Rechtsfrieden und der Pflege des Rechts-Empfindens. Als die alles bewegende Kraft "Gottes" ist Maat jenes Prinzip, von dem Götter wie Menschen leben: In einer Inschrift der Königin Hatschepsut heißt es: "Ich vergrößere die Maat, die er (Re) liebt, denn ich weiß, dass er von ihr lebt. Sie aber ist auch mein Brot, und ich schlucke ihren Geschmack" (Gardiner, in: JEA 32 (1946) 56, Z.9). Am Anfang der Dinge geschaffen, ist Maat unwandelbar: "Groß ist Maat, mit dauernder Wirkungskraft, und sie ist seit der Zeit dessen, der sie schuf, nicht verändert worden" (Ptahotep). Man muss in ihr Wesen immer tiefer eindringen: "Sie kommt durchgeseiht" zum Weisen (Merikare), und "für den Menschen bedeutet Maat das Suchen" (Djedefhor). Ihre Regeln bilden die "Heile Welt" und man wehrt dem Chaos, indem man "die Maat tut". Die Beamtenschaft gewinnt so eine kosmische Bedeutung. Der Inhalt des Begriffes aber bleibt weithin offen. Von der Maat abweichen bedeutet, vom "Weg des Lebens" (Urk. IV, 2156,8f) abweichen.
Altägyptische MemoriaZum großen Nachleben Altägyptens gehört seine Monumentalkultur, die "Steinkultur" seiner Monumente, eines der frühesten und vollkommsten Beispiele eines monumentalen Diskurses und Gedächtnisses. Das Errichten von Denkmälern (jrt mnw; mnw = Denkmal, vorn Stamm mn = bleiben) im Material der Unvergänglichkeit gilt als heilige Verpflichtung und höchste Form des Handelns. Mit Ägypten betreten wir, wie Hegel sagte, "das Land der Ruinen überhaupt", eine Ewigkeitskultur mit ihren Tempeln, Feststraßen, Pylonen, Sphingen, Obelisken, Stelen, Statuen, Pyramiden, Gräbern. Typisch ist die Zweiteilung der Zeit, wie Hekataios von Abdera es für die Vorstellungen der Ägypter tut, wo die irdische, vergängliche und minderwertige Lebenszeit des Alltags (die säkulare Sphäre) von der heiligen Sphäre unterschieden wird. Letztere ist die eigentliche "Gedächtniszeit" mit der virtuell unendlichen Fortdauer, in deren Dienst die Monumente gestellt sind als geheiligter Bestand der Verewigung und der Überwindung der Vergänglichkeit. Diese ägyptische Denkmäler-Ethik steht unter der Devise des "Sei eingedenk" und ist dabei bemüht, gegenseitige Unvergessenheit zu stiften. Ein Radius umschließt das profane und heilige Tun der Menschen und macht das Monumentale sichtbar in der Dimension des Sozialen und der Zeit. Dieses Tun ist beherzt vom Prinzip der Kanonisierung des einmal gefundenen (vgl. die Hieroglyphen, die über dreieinhalb Jahrtausende hinweg ihre kanonische Form bewahrt haben), der "hieratischen Stillstellung", wie Burkhart (1984, 195) es ausdrückt, d. h. von der Stabilisierung des Visualisierten, dem Element das Beharrens gegenüber der Veränderung. Man könnte bei der ägyptischen "Steinkultur" von einer Disziplin der Ewigkeit sprechen. Dem ägyptischen Menschen, dem es in seinem geistig-religiösen Vollzug um Aufdecken und den Nachvollzug von Gesetzmäßigkeiten geht, ist Geschichte als Geschehen im Grunde ein Naturereignis. Die Rolle, die der Mensch dabei auf der Bühne des Niltales spielt, ist die des Schauspielers in der Regie des Maat-Gesetzes. Er ist in das ius divinum und ius naturale eingespannt, einen Plan, den er als Akteur in all seiner Gesetzmäßigkeit nachvollziehen soll. Diese regelmäßige Kausalität und generelle Wiederholbarkeit bestimmt alles Tun und ist das Ungeschichtliche in der Geschichte. Dies ist ein Geschichtsbild, das geprägt ist von dem monotonen Lebensrhythmus kurz- oder langfristiger Naturabläufe (Tag, Jahreszeiten mit der Nilüberschwemmung). Dabei sind Gegenwart und Vergangenheit wesensverwandte Faktoren, denn erstere findet ihre Bestätigung und Gültigkeit in der Vergangenheit, und diese wiederum reicht durch ihre stete Wiederholbarkeit in die Gegenwart herein. Deshalb kennt Ägypten kein "Goldenes Zeitalter", das zu glorifizieren wäre und auch keine Dekadenztheorie. Erziehung, im Unterschied zur Ausbildung für einen Beruf, heißt, den Menschen im Sinne eines bestimmten Menschenbildes zu formen, ägyptisch gesprochen im Sinne der Maat als dem Zentralinhalt aller Lehren und deren Auswirkung im Leben.
Der Begriff der MaatMaat fasst nicht nur alle Satzungen des Lebens in sich, sondern ist auch der Umschluss der sakralen Ordnung in Ritus und Kult. Der vor Gott tretende Mensch muss sie mit sich bringen, d. h. in einem durch seine Lebenshaltung begründeten Zustand der Maat und von der Rechtlichkeit zeugenden Lebensweise. Es gibt die Maxime: "Sprich Maat, tue Maat; Sie wird als "schönes Wort, das aus dem Munde des Re selbst kommt" tradiert und so in der göttlichen Sphäre, im Metaphysischen verankert. Der Fromme bekennt sich zur Maat und versichert, dass er sie "in sein Herz gesetzt" habe. Sie ist, um mit Pascal zu sprechen, ein "ordre du coeur", eine Herzens- und Gewissensordnung, die für sich selbst spricht. So muss der König als der irdische Stellvertreter des Re über sie wachen und "Maat an die Stelle des Unrechts setzen" (Pyr. 265; 1775), denn er ist der "Geliebte der Maat, der in seinen Gesetzen in ihr lebt" (Kees, Lesebuch, p.41). Im Jenseitsgericht, in der "Halle der Maat" wird das Herz des Menschen gegen sie abgewogen, die aber für den Frommen "ein treffsicher Beistand" ist (Rec. 4,131). Der Gott Thot fügt dann das Lebensresultat jeder abgeschiedenen Existenz in das Ganze der Weltordnung ein. Als Grundbegriff des religiösen und zivilisatorischen Universums umgreift das Konzept der Maat[3] die mehrstufige Ordnung der Gesamtwirklichkeit Ägyptens als ius divinum und ius naturale. Als Begriff höchster Komplexivität gibt der Begriff die Innenansicht des altägyptischen Wirklichkeitsverständnisses von Himmel und Erde wieder und lässt sich nur mit einer Vielfalt von Ausdrücken näherungsweise umschreiben: als Wahrheit, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Recht, Echtheit, Weisheit, Ordnung, Richtigkeit im Sinn einer immanenten Gesetzmäßigkeit. Diese wird als von Anfang an vollendete gedacht. Dieser Zentralbegriff der ägyptischen Kultur (ursprünglich Mu'at) bedeutet die rechte Ordnung aller Dinge und ist mit ihrer wahren Struktur, dem ordo rerum identisch. So will z. B. Amenhotep (1545-1524, 18. Dynastie) "das Land am Blühen bringen, wie es in Urzeiten blühte, und zwar dadurch, dass er den Entwürfen der Maat, der Tochter des Sonnengottes Re, folgte." Maat ist "Gefährtin" des Re (Pyr. 1774b) oder "Tochter des Re" (CT II 27c), also die höchste und alles lenkende Kraft des "Gottes", von der Götter wie Menschen leben ('nh m:'t). Königin Hatschepsut lässt in einer Inschrift sagen: "Ich vergrößere die Maat, die er (Re) liebt, denn ich weiß, dass er von ihr lebt Sie ist aber auch mein Brot, und ich schlucke ihren Geschmack." Die Maat aber wird auch in Beziehung zu anderen Göttern gesetzt, zu Ptah als Schöpfergott (CT VI, 267b) zu Horus als Himmelsgott (Pyr. 319b 323c) zu Thot als Rechner, "der die Maat bringt" (CT III, 3721: IV, 88m; 90i) und dann am Ende des Alten Reiches zu Osiris in der "Halle der beiden Maat", wo beim Totengericht die Maat auf der Waage gegen die Taten des menschlichen Herzens abgewogen wird (Pyr. 1520a: CT IV, 170 a-c). a) Maat als ius divinumMaat ist das integrale Rechtsuniversum der metaphysischen oder göttlichen Ordnung. Das ius divinum des Sonnengottes Re durchdringt das ganze Rechtsuniversum in ungebrochener Integrität. Ein Spruch lautet: "Unter der Herrschaft des allumfassenden Sonnengottes lebt jegliche Kreatur nach ihrer Art und hat ein Recht auf ihr Leben". Sie ist das Regulativ der harmonischen Vielfalt aller Existenz in Arbeit und Spiel, Jagd und Fischfang, wie dies an den Wänden des Sonnenheiligtums des Ne-User-Re dargestellt ist. Sie als Basis der Weltordnung von der Gottheit gesetzt und so ein Stück des Anfänglichen, Richtschnur und Ziel der göttlichen Lenkung. So kann man sagen, dass das Tun des Re, sein Wille und sein Wesen Maat sind. Maat ist der "Weg des Lebens" (Urk. IV, 2156,8f), von dem der Mensch nicht abweichen dürfe. Diese Perichorese von Re und Maat wird in dinghafter Anschaulichkeit besungen: In der späteren Theologie wird Maat als vom Himmel kommend gedacht und zwar am Anfang der Dinge. In einer Tempelinschrift aus Theben heißt es: "Die Maat kam aus dem Himmel zu ihrer (= der Urgötter) Zeit und gesellt sich zu denen, die auf Erden leben; das Land war im Überfluß, die Leiber gefüllt, nicht gab es ein Hungerjahr in den beiden Ländern, nicht fielen Mauern ein, nicht stach ein Dorn zur Zeit der Götter-Vorfahren."[4] Ausfluss der Kenntnis der Maat sind die Gesetze (hpw), mit denen die Ordnung aufrecht erhalten wird. Das Wissen um Maat kann sich im Lauf der Zeit spezifizieren und verfeinern. "Sie kommt durchgeseiht" zum Weisen (Merikare) und "für den Menschen bedeutet Maat das Suchen" (Djedefhor)[5]. Sie ist am Anfang der Dinge geschaffen, ist unwandelbar und wird mit Tefnut als dem ersten weiblichen Wesen der Schöpfung identifiziert: "Groß ist Maat, mit dauernder Wirkungskraft, und sie ist seit der Zeit dessen, der sie schuf, nicht verändert worden" (Ptahhotep). Sie ist eine erkennbare Ordnung, die lebbar und darum auch tradierbar ist. Der Vater gibt sie dem Sohn weiter, der Lehrer an seine Schüler. Sie wird als "Lehre" festgehalten. Maat ist der "Weg des Lebens" (Urk. IV, 2156,8f), von dem der Mensch nicht abweichen dürfe. Diese Perichorese von Re und Maat wird in dinghafter Anschaulichkeit besungen: "Du durchwanderst den Himmel und leitest die Erde, Wie Maat den Re umfängt und durchdringt, so ist sie ihm auch Speise und Lebenstrank. "Du ißt Maat; du trinkst Maat; dein Brot ist Maat, dein Bier ist Maat; der Atem deiner Nase ist Maat" (a.a.o. 142). Auch die sakrale Ordnung von Ritus und Kult ist in dem Begriff der Maat zusammengefasst. Durch die Maat erhält die altägyptische Gottesvorstellung einen sittlichen Aspekt und ist nicht nur für den Re-Glauben konstitutiv. Sie ist Stück der göttlichen Weltordnung und in ihrem Zeichen muss sich auch das irdische Regiment vollziehen. Der König, Stellvertreter des Re und "Geliebter der Maat, der in seinen Gesetzen in ihr lebt" (Kees, Lesebuch, 41), muss danach trachten, "Maat an die Stelle des Unrechtes zu setzen" (Pyr. 265, 1775), denn er lebt von ihr und sie ist "seine Speise" und "er schlürft ihren Duft"' (Urk, IV 385; vgl. Ermann, Lit. 339)[6]. Wesensmäßig auf Re bezogen ist Maat das Ka des Re und kam am Anfang der Dinge "vom Himmel zu ihrer Zeit und gesellte sich zu denen, die auf Erden lebten", Recht und Gedeihen stiftend (Sethe, Amun § 119,125). b) Maat als ius naturaleDer himmlische Repräsentant der Maat ist der Sonnengott Re, der durch seinen zyklischen Lauf die Ordnung der Zeit, die Tage und die Jahreszeiten sichert und damit den ordo rerum. Darum sind in diesem Begriff alle Erscheinungen und Handlungen umgriffen, Kosmos und Staat, Gesellschaft und Recht, Ethos und Tempelritual, rechtes Messen, Rechnen und Wägen. Als präexistente Größe von universaler Norm der Welt vorgeordnet, wird sie von Re an die Welt und die Lebenswelt der Menschen vermittelt. Als ius naturale ist sie die innere Ordnung des Werdens und Vergehens, des Keimes und Wachsens, des Welkens und Sterbens, mit einem Wort, der ägyptischen Kulturheimat und der Sakralität des Osirisreiches. Sie ist das Regulativ der zivilisatorischen Menschenwelt und ihres Rechtslebens. Seit dem "Mittleren Reich" wird sie später noch interiorisiert, wohnt in den Herzen der Menschen, wird zum "ordre du coeur", um mit Pascal zu sprechen, zum Gewissen und Kompass der menschlichen Innerlichkeit. Maat aber ist auch für die Ordnung des Kalenders und die daraus sich ergebende rituelle Regulation des Lebens und der damit zusammenhängenden kalendarischen Aspekte der zivilisatorischen, bäuerlichen und religiösen Lebensvollzüge. Ihre Ordnung ist das Sicheinander-Fügen der Existenzen und der selbsteigene Rhythmus des Existierenden. In dieser metaphysischen Rechtsordnung bringt der Pharao "die Maat dem Sonnengott von Heliopolis dar", und der ägyptische Mensch tut Maat für seinen König[7]. c) Die Kultszene der "Darbringung der Maat"Die Darstellung in den ägyptischen Tempeln zeigt, wie der König als Vertreter der Menschenwelt die Maat mit der Straußenfeder auf dem Haupte darbringt. In diesem Ritual ist all das zusammengefasst, was Kult, was Opfer, was Antwort an die Götter bedeutet. So können die Opfergaben Brot, Bier, Weihrauch u. a. m. mit Maat identifiziert werden. Maat ist die Opfergabe schlechthin und repräsentiert alle anderen, die selbst nur ein Teil von ihr sind. Ein Hymnus sagt, was die Kultszene der "Darbringung der Maat" meint: "O Re, Herr der Maat! O Re, der von der Maat lebt! Die neun "Klagen des Oasenmannes" (der Text ist auf 4 Papyri das Mittleren Reiches erhalten: B1; pBerlin 3032) erscheinen wie eine Exegese des Maat-Begriffs und gipfeln in den verschlüsselten und verrätselten Worten: "Es gibt kein Gestern für den Trägen, In diesen Zeilen geht es um die Quintessenz des Maatbegriffs unter den drei Aspekten der Handlung, der Kommunikation und des Willens. aa) Die erste Sünde gegen die Maat ist die der Trägheit und des Vergessens, was als Nichthandeln und Unterlassen der Forderungen, mit denen das Gestern das Heute an sich bindet, notiert ist. Die Vergesslichkeit des Menschen zerreißt dieses Band, denn der Träge hat keine Verantwortung und lebt ohne Bezug und ohne Gegenwärtigsetzung des Gestern. Neben der individuellen Vergesslichkeit gibt es auch die soziale als Suspension und Missachtung des maat-gebotenen "Füreinander-Handelns". Durch solche Vergesslichkeit des Gestern im sozialen Bereich zerreißt das menschliche Netz der Solidarität und generiert die Tragödie des "homo homini lupus". In der "Lehre des Amenemhet" (10f) wird die Klage laut: "Siehe, man kämpft auf dem Kampfplatz, denn das Gestern ist vergessen. Nichts gelingt dem, der den nicht mehr kennt, den er gekannt hat." Maat als Prinzip der Solidarität, der Gegenseitigkeit und des Ausgleich ist in solch einer Haltung fundamental desavouiert. bb) Die "Taubheit" ist die zweite Sünde. "Wer für die Maat taub ist, hat keinen Freund". Korrespondiert die Trägheit der Handlung, so die Taubheit dem Hören, Verstehen, der Sprache und zeigt, wie sich der Taube in der Sozialdimension isoliert, während der Träge in der Zeitdimension. Zwei Sinndimensionen sind hier notiert, die des "Gestern" und die des "Freundes". Das Abkoppeln von dem einen wie dem anderen verstößt gegen die Maat. Der Träge separiert sich vom Gestern, der Taube vom Mitmenschen. Beides zerreißt die communio der Menschen und ihre gesellschaftliche Solidarität. Der Taube verschließt sich dem Wort und seinem Anruf. Er übt nicht die "Kunst des Hörens" als einem der zentralen Momente der ägyptischen Paideia. Der Text der "Klage des Oasenmannes" (Bauer B1, 188-189) lautet: "Sein Gesicht ist blind gegenüber dem, was er sieht, Der locus classicus für den Grundvorgang des Hörens (sdm) und der Preisgesang darauf begegnet in über 100 Versen der "Lehre des Ptahhotep". Wie ein Fugato folgen einander die Sätze: "Wohltätig ist das Hören für den hörenden Sohn. Der für die Maat Taube ist unfähig für Freundschaft, weil er für Liebe im Sinn der philia unfähig ist. Als der nicht auf die Maat Hörende wird er zu einem, der sie im Tun und im Handeln verfehlt. Der kategorische Imperativ dieses hörenden Ethos Altägyptens könnte paraphrasiert werden: "Handle stets so, dass du das Netz des Füreinander-Handelns nicht zerreißt" - oder in zwei Worten: "Handle solidarisch". cc) Die dritte Sünde gegen die Maat ist die Habgier als eine Eigenschaft des Herzens ("wn jb = raffgierig in Bezug auf das Herz), durch die die sozialen Bande zerrissen werden und sich alle Verfehlungen gegen die Maat bündeln. Maat ist ja konstitutiv der Wille zur Gemeinschaft, "Habgier" hingegen seine Entgegensetzung, die sich als Eigenwille und Eigennutz solcher Einfügung entgegenstellt. Der Eigenwille als asoziale Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung steht konträr zur Kultur des Füreinander-Handelns und Aufeinanderhörens. Bei diesen drei Aspekten der Maat, dem der Handlung, dem der Kommunikation und dem des Willens (= des Herzens) ist letzterer der entscheidende, den es zu sozialisieren und zu integrieren gilt. Darum gehört es zum Grundethos dieser Kultur, den Eigenwillen dem Gemeinwillen unterzuordnen. Der destruktiven Haltung der Habgier stehen zwei konstruktive Haltungen gegenüber, die des Eingedenkseins des "Gestern" und die des Zuhörens/Verstehens, beides Formen der Selbsttranszendierung. Die Maat-Kultur Ägyptens stellt unter den Appell zum Miteinander, zur Gemeinschaft, zur Mitmenschlichkeit und hat in der Selbstabschließung des Menschen durch Nichthandeln, Nichthören und Egoismus ihr peccatum magnum contra communitatem. Als ius divinum et ius naturale ist Maat die Wahrheit im Wort, das richtige Denken und die Gerechtigkeit im Handeln. Die ägyptische Religion ist etwas Sakrales, deren Botschaft im Denken der Mittelmeervölker tiefe Spuren und ein tiefes Echo hinterließ.
IV. Zum Wesen des GesetzesDas Gesetz (der Nomos bei den Griechen) hatte eine religiöse und theologische Bedeutung (von nemein = zuteilen) und meint in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Ordnung des Seins, die in der mythischen Religiosität gründet, sowie eine allgemeingültige Art und Weise des Handelns in Sitte und Brauch, die durch Herkunft überliefert sind. Bei Heraklit erhalten alle menschlichen Gesetze ihre Legitimation erst durch Teilnahme am "göttlichen Gesetz", dem theios nomos, den er mit dem Logos als Weltprinzip identifiziert. Damit wird erstmalig die Vorstellung vom "falschen Gesetz" denkmöglich, und bei Sophokles, wie dies in der "Antigone" entgegentritt, zwischen dem ungeschriebenen göttlichen Gesetz und dem Gesetz der Polis unterschieden (Antigone 454f). In Anlehnung an Heraklit personifiziert Pindar das Gesetz zum "König Nomos" (Frg. 169), der später in orphischen Kulten als Gott verehrt wurde. Der Nomosbegriff im Griechischen (von nemein = das Zugeteilte, in Geltung Stehende, das Herkommen, die Sitte, das Gesetz) ist ein Gehalt, die ihn zu einem theologischen Begriff machen. Nomos ist Satzung des Rechten und Guten, ist göttliche Offenbarung im Irdischen. Es wird die Gottheit als Ursprung und Norm des irdischen Nomos gesehen. Nach Pindar ist der Nomos König von allen und allem, von Sterblichen und Unsterblichen (Frg. 169) und wird mit Zeus selbst identifiziert. (vgl. Platon, Nomoi und der Weg der Idagrotte). Hölderlin sagt dazu, Nomos sei in diesem Wort nur das Zeichen "für den höchsten Erkenntnisgrund, nicht für die höchste Macht". Auch im ältesten Spruch des abendländischen Denkens ist die Rede davon, dass die nach Notwendigkeit entstandenen, nach Notwendigkeit zugrunde gehenden Dinge Buße zahlen müssen "und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit". Erkenntnis und Sittlichkeit sind nicht voneinander zu trennen und Welterkenntnis muss immer den Menschen und seine sittliche Natur einbeziehen, so dass Wissenschaft im höchsten Sinne ein "Bund von Wissen und Gewissen" wäre. Warum sind Gesetze notwendig? Platon sucht die Erklärung in der Differenz zwischen göttlichem und menschlichem Nous: Weil der menschliche Nous/Verstand nur ein unvollkommenes Abbild des Göttlichen ist, müssen die Menschen notwendig Gesetze statuieren und nach ihnen leben. Nur ein durch göttliche Fügung als vollkommener Mensch Geborener bedürfte der Gesetze nicht, denn "weder ein Gesetz noch eine Ordnung ist stärker als die Erkenntnis". Da es aber nicht so sei, müsse der Mensch sich an Gesetz und Ordnung als an das Zweitbeste halten[8]. Das Wahrheitskriterium eines Gesetzes aber liegt darin, ob es mit der menschlichen Seele übereinstimmt, in die der Nous/Verstand eingebildet ist. In der Erkenntnis des göttlichen Gesetzes gründet jedes menschliche Gesetz. Im AT hat sich das Gesetz/Tora zuerst im Dekalog, den zehn Geboten, manifestiert und den damit verwandten Gebotsreihen (Ex 20,2ff; Lev. 19,11ff; Dtn 27,15ff), in denen die Grenze zu den fremden Göttern gezogen wurde. Im sog. Bundesbuch (Ex 21-23) werden alle Lebensbeziehungen unter den Bund Gottes mit den Menschen gestellt und der Kult als religiöse Ausdrucksform geregelt (Heiligkeitsgesetz Lev. 17-26; vgl. Deuteronomium). Ist das apodiktisch formulierte Recht ("Du sollst nicht") genuin-israelitisch formuliert, so sind die kasuistischen Bestimmungen durch die Sesshaftwerdung bedingt[9]. Im AT bezeichnet die Torah die je und je von Jahwe Israel gegebene Weisung (Jes 1,10; Hos 4,6), die als Wille Gottes bekannt, bewahrt und gehalten werden soll, damit das Leben in Ordnung gehe (Ps 15,1; Dtn 5,1; 7,12). Zu ihrer Eigenart gehört es, dass sie eine Gabe des Bundes-Gottes an sein Bundesvolk ist (Ex 19-24), damit dieses in diesem Bunde lebe, nämlich Gott und den Nächsten liebe (Lev 19,18). Sie umfasst die mannigfaltigen Formen wie katechismusartige Stücke, Rituale, Rechtsbücher u. a., um die kultisch, humane und soziale Lebensordnung zu bestimmen. Vor dem Auftreten des Christentums begegnet der Urtypus der Gesetzlichkeit in der jüdischen Religion mit der Grundtendenz der "Orthopraxie", des richtigen Handelns in jeder Situation. Der Fromme lebt aus dem "Gesetz" als dem geoffenbarten Gotteswillen und als dem Grundgesetz des Lebens. Schriftgelehrte applizieren es kasuistisch auf die Bedingungen und Ergebnisse des Alltags. Alles gründet sich auf den Gedanken der Vergeltung: "Treu ist Gott denen, die ihn wahrhaft lieben." Wer das Gesetz hält, ist ein Gerechter und wird leben (Spr. 14). Die Gefahr dabei war, die pharisäische Erstarrung zu fester Gesetzlichkeit, eine Neigung, von der auch die Geschichte des Christentums immer wieder bedroht war und ist. Paulus hatte programmatisch und schroff dagegen polemisiert (Gal 5,1ff) und den Glauben als Weg zum Heil aufgewiesen (Röm 9,31; Phil 3,6ff)[10]. Der Begriff der "Gesetzlichkeit" hat durch Kants Theorie der Moralität und Legalität eine neue Färbung erhalten: Derjenige, der aufgrund äußerlicher Triebfedern ein Gebot erfüllt, handelt "gesetzlich"; derjenige, der nur aus der "Vorstellung der Pflicht" heraus handelt, als "moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch". Änderung zugunsten des zweiten kann nur "durch eine Revolution der Gesinnung im Menschen" erreicht werden[11]." Friedrich Schlegel geht noch weiter: "Die erste Regung der Sittlichkeit ist Opposition gegen die positive Gesetzlichkeit und konventionelle Rechtlichkeit."[12] Hinzuzufügen wäre, dass der bloß "gesetzliche Mensch" letztlich unfrei wäre, wenn er die Form des göttlichen Anspruchs und Gebotes nicht als Einheit von Sollen und Dürfen, von Gesetz und Evangelium sehen würde. Es ist das Dürfen und Sollen im Kraftfeld des Evangeliums Christi. Das Gesetz des AT findet bei Paulus in Christus sein Ende (Röm 10,4), aber lässt den Glaubenden nicht gesetzlos werden (vgl. 1 Kor 9,21; Gal 6,2), sondern hat seine Zusammenfassung im Gebot der Liebe (Röm 13,8; Gal 5,15; vgl. 1 Kor 13, das "Hohelied der Liebe"). Durch Christus begegnet die Gerechtigkeit Gottes als Gnade und Kraft der göttlichen Liebe. Augustinus betet: Da quod iubes et iube quod vis[13]. Im NT steht Jesus in der Bergpredigt als der neue Moses vor uns (Mt 5-7). Dieses Stück messianischer Himmel-Reichs-Verkündigung beginnt mit den "Seligpreisungen" und schließt mit den Worten vom Bauen auf den Fels oder auf den Sand. Jesus lehrt den Willen Gottes als die "bessere Gerechtigkeit". Das Johannesevangelium aber konzentriert alles um die Weisung der Liebe (13,34f; 15,12; vgl. 1 Joh) als der durch sein Tun neu begründeten, in der sich die Gottesgemeinschaft verwirklicht (1 Joh 4,16).
V. Stimme des HerzensDas Herz ist in der profanen Anthropologie Sitz des Gefühlslebens und der Charaktereigenschaften wie Respekt und Ehrfurcht, Vertrauen und Liebe. Als personale Mitte des Menschen und Inbegriff seines Denkens, Wollens, Hoffens und Liebens symbolisiert es die Gesinnung und Haltung des Menschen. Herz ist im Sinne Augustins der innerste Bezirk des Menschen, der "homo interior" als dessen Entbergung und Verbergung. Es ist das Eigentümliche des Menschen, aus einem unsagbaren Geheimnis aufgerufen zu sein und wiederum sich in ihm zu bergen. Den Zwiespalt zwischen Herz und Kopf hat Fr. Nietzsche auf den Punkt gebracht: "Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in einer Person beisammen sein" (in: Werke, hg. K. Schlechta, 1,235). Und dann wagt er den kühnen Ausblick: "Einstmals, wenn Herz und Kopf so nah beieinander zu wohnen gelernt haben, wie sie jetzt noch einander ferne stehen" (a.a.o. 1,948). In einem altägyptischen Papyrus heißt es: "Ptah, mein Herz ist voll von dir, und empfohlen wird das "Beten mit liebendem Herzen."[14] Hoch bewertet wird die Festigkeit und Beharrlichkeit des Herzens, aber auch Erkennen und Einsicht haben ihren Sitz in ihm. In der religiösen Anthropologie aber ist das Herz jenes Organ, durch das Gott zum Menschen spricht und durch das der Mensch Gott erkennen und seinen Willen vernehmen kann. Gott führt den Menschen durch dessen Herz[15], so dass in diesem Sinne das Herz eines Menschen auch sein Schicksal[16] ist: Es kann auf Gottes Stimme hören[17] oder sich taub stellen. Aus der ägyptischen Religion stammt die Vorstellung vom "zweiten Tod", der vom Totengericht nach der Wägung des Herzens verhängt werden konnte. Das Herz des Toten als körperliches, geistiges und willentliches Zentrum des Menschen wurde gegen die Maat, die ethische Grundnorm Altägyptens, abgewogen. Die Spruchtitel der Totenliteratur haben die Hoffnung zum Inhalt: "Zu leben nach dem Tode im schönen Westen" (CT 11,95e), und den Wunsch: "N. N. soll nach seinem Tode leben" (Tb 3). Mit magischen Sprüchen will man den "zweiten Tod" verhindern: "Spruch, nicht noch einmal zu sterben im Totenreich" (hr.t ntr)[18]. Schon früh wird das Herz wichtig für Religion und Magie und zum Gegenstand des Nachdenkens. Die Schöpfungshymne des altindischen "Rigveda" macht das Herz zum Ort einer grundlegenden Erkenntnis: "Die Nabelschnur des Seienden im Nichtseienden fanden die Dichter heraus, in ihrem Herzen forschend, durch Nachdenken."[19] Weil göttliche Macht die "geistige Kraft" ins Herz des Menschen gelegt hatte[20], ist das Herz der Ort der Wahrheit (satyam): "durch das Herz erkennt man die Wahrheit."[21] Die Seele (purusha) wohnt "inmitten des Herzens."[22] In einem solchen Denken vermag das Herz alles in sich aufnehmen. Erst das vertikal orientierte Denken der Zarathustra-Religion spaltet das Herz als Sitz der Seele und des Gehirns: "Ebenso wie Ohrmazd seinen Thron im unendlichen Lichte und sein Dasein im Paradiese hat und von ihm Kraft allerorten hingelangt ist, so hat auch die Seele ihren Thron im Gehirn im Innern des Kopfes, ihr Haus im Herzen und von ihr ist Kraft in den ganzen Leib gelangt."[23] Das Herz ist Ort der inneren Zwiesprache: Dies zeigt der bittere Dialog des Odysseus mit seinem Herzen, als er nach der zehnjährigen Irrfahrt am Heimatherd die Greuel der Freier erleben muss (Od. XX, 13-24). Das Herz ist so aber Ort von Affekten und Gemütsbewegungen. Der Begriff hat eine große semantische Spannweite. Im AT gewinnt er seine religiös-theologische Bedeutung als Ort von Gedanken, Erinnerungen und Empfindungen. Es ist vom bösen "Dichten und Trachten" des Herzens die Rede (Gen 6,5), dann vom unbelehrbaren Herzen, das "verstockt" bleibt (Ex 7,13f). Es kann aber auch für das Grundverhältnis des Menschen zu Gott stehen, wenn Jahwe dem Propheten Hesekiel verkündet: "Ich werde ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in ihr Inneres legen; ich werde das steinerne Herz aus ihrem Leib herausnehmen und ihm ein fleischernes Herz geben, damit sie nach meinen Geboten wandeln und meine Satzungen halten und darnach tun. Dann werden sie mein Volk sein, und ich werde ihr Gott sein" (Ez 11,19-20). Seine Krönung erhält der alttestamentliche Herzensbegriff aber in der Verbindung mit dem Liebesgebot: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte... sollen dir ins Herz geschrieben sein" (Dtn 6,5-6). Im NT mit der Ausdehnung des Liebesgebotes auf die Feindesliebe, gewinnt das Herz ferner die Bedeutung einer dem Menschen verborgenen, nur Gott offenbarenden Mitte. Es ist die innerste Mitte der Person und letztlich mit der "Seele" synonym. In diesem Sinne kann unterschieden werden zwischen dem Lippenbekenntnis zu Gott und der im Herzen wirklich sichtbar werdenden Liebe (Mt 15,8), oder zwischen Schein der Gerechtigkeit vor der Welt und tatsächlicher Ungerechtigkeit im Herzen (Lk 16,15). Paulus sublimiert den Herzens-Begriff hin zum "Augen des Herzens" (Eph 1,18) und der "Beschneidung des Herzens" (Röm 2,29). Eine besondere Hochschätzung des Herzens Jesu deutet sich schon bei Justinus dem Märtyrer an (2. Jh. n. Chr.) und wird in der Exegese des Hohenliedes durch Origenes deutlich. Er spricht davon, dass Johannes "in nächster Nähe des Herzens Jesu und an dem Born der tiefsten Erkenntnis seiner Lehre ruhte", "in principali cordis Jesu atque in internis doctrinae sensibus" (Origenes, MPG 13,87). Das hat seine religiöse Wirkungsgeschichte bei Cäsar von Heisterbach, Gottfried von Admont, Hildegard von Bingen und in der Neuzeit vor allem bei der französischen Salesianer-Nonne Maria Margareta Alacoque und ihrer Vision des göttlichen Herzens. Die Herz-Jesu-Verehrung steht unter dem dreifachen Aspekt des "leidenden", "verklärten" und "eucharistischen" Herzens. Der theologische Sinn der Herz-Jesu-Frömmigkeit ist, im Herzen Jesu das tiefste Geheimnis der Menschwerdung zu sehen, den Lebensort der Vereinigung der zweiten göttlichen Person mit der menschlichen Natur. Eine Synthese des Herzens-Denkens gibt E. W. Eschmann, wenn er schreibt: "Auf der einen Seite sieht sich das Herz physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt, welche vergangene Kulturen und Zivilisationen nicht kannten. Auf der anderen Seite aber wird es von der Wissenschaft her auf eine ebenfalls neue, überraschende und ungemein präzise Weise nicht nur als leibliches Organ und auch nicht nur als Organ der Seele, sondern in sich selber als seelisches Organ erkannt."[24]
Das "Auge" des HerzensDer "kleine Prinz" (Le petit prince)[25], jenes Märchen für Erwachsene von Antoine de Saint-Exupery, ist letztlich ein Ruf, zu dem "kleinen Prinzen" unserer Kindheit zurückzufinden und sich zur Weisheit dieser Kindlichkeit zu bekennen, der Herzensweisheit des Sehens mit dem Auge des Herzens. In dieser gedankentiefen Geschichte und der Parabel geht es um das Erfassen des Inneren der Dinge mit dem Herzen. Grundlegend ist das Mysterium der Freundschaft und der Liebe im Übernehmen und Tragen der Verantwortung füreinander: "man kennt nur Dinge, die man gezähmt hat", d. h. zu denen man eine Beziehung eingegangen ist und zu denen man Bindungen geschaffen hat. Der rationalen Sehweise der Erwachsenen und ihrer Besitzergreifung der "Welt durch Zahlen" wird in den Parabeln von der Rose und vom Fuchs das Gebot der Mitmenschlichkeit entgegengestellt: "Man sieht nur mit den Augen des Herzens in der richtigen Weise. Das Wesentliche ist unsichtbar für die Augen."
VI. Buchstabe und GeistIm 2. Brief an die Gemeinde in Korinth kommt Paulus im Zusammenhang eines apologetischen Abschnittes (2,14-7,14), in welchem er an seinen Dienst der Verkündigung erinnert, auf die Antithese von Buchstabe und Geist zu sprechen (2 Kor 3,6). Im Zusammenhang damit spricht er vom Mosesamt und Apostelamt, d. h. von den beiden heilsgeschichtlichen "Diakonien": der Dienst des Buchstabens (gramma) mit Moses als Repräsentanten, bringt letztlich Verurteilung (V.9) und Tod (V.7), während der Dienst des Geistes (pneuma) als Teilhabe am Christusgeschehen Gerechtigkeit schenken wird (V.9). Das Gesetz als nur Geschriebenes und Vorgeschriebenes auf steinernen Tafeln, begegnet dem Menschen von außen und hat nicht die Kraft, das steinerne Herz umzuwandeln. Nur der apostolische Dienst, der am gottgeschenkten Geist sein Kennzeichen und Gepräge hat (vgl. Ez 11,19; 36,26), macht das menschliche Herz zu einem fleischernen, d. h. für Gottes Wirken empfänglichen, so dass der Mensch von innen heraus die Intentionen Gottes zu tun sich anschickt (vgl. Jer 31,33). Durch den Dienst des Apostels kommt die alttestamentliche Verheißung, dass Gott seinen Willen in das menschliche Herz schreiben wird, zur Erfüllung. Paulus weiß sich als brauchbares Werkzeug dieser Vergeistigung" (3,4-6) im neuen Bund (vgl. Jer 31,31ff), dem Bunde des Geistes. Nach ihm lebt daher der Christ nicht "vor" dem Willen Gottes, sondern "im" Willen Gottes, begeistet von der in Christus nach dem Menschen greifenden schöpferischen Nähe Gottes. Der lebendigmachende Geist ist die Gegenwart Christi selbst, wenn Paulus schreibt: "Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" (2 Kor 3,17).
VII. IntegrationDas mit der "Stimme des Herzens" benannte Thema stellt uns vor die Frage, welche Bedeutung diesem menschlichen Herzen, das auf sich selbst zurückverweist, bei sittlichen Entscheiden und im Konflikt mit den Gesetzen zugebilligt wird. Welche Autonomie darf es beanspruchen? Wie stark ist es selbst wiederum von sekundären Systemen gesteuert, "außengelenkt" (Riesmann)? Welche Konformismen, welches Denken des "Man" erodiert die Entscheidungs- und Herzensfreiheit? Wie werden in unserer Gesellschaft die dem einzelnen zugelastete Verantwortung von diesem weitergeleitet, anonymisiert? Wie kann sich der Mensch in seiner Unvertretbarkeit, d. h. in seinem Herzen, der Übermacht äußerer Zwänge erwehren? Es gibt das elementar zu nennende Phänomen des "Aufstands des Gewissens", wie er sich bei Camus, Gandhi, Solschenizyn, Camara u. a. sowie in manchen Protestbewegungen zeigt. Schon die Vorsilbe "Ge-" deutet an, dass es sich um ein Wissen besonderer Art handelt. Die Vorsilbe "Ge-" besagt im Deutschen eine Zusammenfassung von Dingen, gemeinsamen Aspekten (vgl. Ge-tier; Ge-habe; Ge-birge) und hat im lateinischen Wort "conscientia" eine Parallele: dem Mit-Wissen, dem Zusammen-Wissen des Menschen mit Gott bzw. dem Mitwissen Gottes mit dem Menschen. Im NT nimmt Jesus immer wieder Bezug auf das menschliche Herz als dem Repräsentanten der inneren Einstellungen, Absichten und Überzeugungen eines Menschen, die den sittlichen Wert oder Unwert seines Tuns bestimmen. Im 1 Kor 8,7ff proklamiert Paulus die Freiheit des Christen von der Bevormundung durch ein fremdes Gewissen, denn es gilt auch Rücksicht zu nehmen auf das Gewissen der Schwachen. Das kann für den "Starken" bedeuten, ein mit gutem Gewissen zu vertretendes Handeln (Essen von Götzenopferfleisch) um des (noch) labilen Mitbruders willen zu unterlassen. Damit kommt hier der Begriff "Toleranz" ins Spiel mit dem Lebensrecht wie dem Entfaltungswillen des Andersdenkenden. Diese ist ein grundsätzliches Regulativ und verlangt dem Einzelnen ein hohes Maß an Ichstärke, Übereinstimmung mit sich selbst und damit auch Belastbarkeit ab. Auf ihren gelebten Vollzug hin gesehen verlangt sie vor allem den Verzicht auf die Absolutsetzung des eigenen Standpunktes. D. h. sie gönnt dem anderen sein Anderssein. Nach Lk 6,36 lässt der Vater im Himmel ja seine Sonne aufgehen über Gerechte und Ungerechte und ist gütig gegenüber Undankbaren und Bösen (vgl. auch Mt 13,24-30). Auch das "einander Ertragen" gehört zu der immer wiederkehrenden Anmahnung des Apostels Paulus (1 Kor 4,12; 2 Kor 11,1; Kol 3,12f). Die Richtschnur des Handelns mit dem Herzen ist also die Liebe, die sich der Liebe Christi verpflichtet weiß. Das menschliche Handeln und Verhalten weiß sich letztlich durch drei Faktoren mitbedingt: einmal durch die Bedürfnisse, Antriebe und Sehnsüchte des Menschen, die anzeigen, was der Mensch "mag"; dann durch das Sollen, das dem Tun ein Maß des Gewissens setzt; schließlich streckt sich das menschliche Ich wollend einem Objekt zu. Zwischen Mögen, Sollen und Wollen vollzieht sich die Wirklichkeitserfahrung, aber so, dass der Mensch auch weiß, dass nicht alles Mögen auch ein Gesolltes ist und er mitunter etwas soll, was er gar nicht mag, und dass sein Wollen vielfach nicht dem Sollen entspricht, sondern nur dem Mögen Rechnung trägt. Die Stimme des Herzens ist aufs engste mit der Werterfahrung und Orientierung verbunden und muss die "Unterscheidung der Geister" üben. Die Herzensbildung ist ein vielschichtiges Zusammenspiel von Ichfindung und Wertfindung, Du- und Wir-Findung. Martin Heidegger spricht in "Sein und Zeit" vom Gewissen, das sich im Sein des Daseins als Sorge manifestiert, als Ruf des Daseins aus der Uneigentlichkeit, der Verfallenheit an das "Man" in die Eigentlichkeit, das Selbst. Das Herz des Menschen ist ein "Urwort" und hat eine metaempirische Dimension in der Weise, dass es das Unverwechselbare des Menschen ausmacht, seine Einsamkeit, seine Innigkeit. Immanente Kategorien können es nicht hinreichend fassen. Vgl. das Gedicht von Nikolaus Lenau: "Herz, du hast dir selber oft, oft weh getan Jeder kennt es und keiner hat es ganz in seiner Regie. Dieses Unerklärliche führte schon in der Antike zur Annahme, dass sich Gott selbst im Herzen offenbare. Es ist der Ort der Stimme Gottes (Gewissen und Herz). Im Spruch des Herzens wird deutlich, sich nicht nur für jemand, sondern in einer besonderen Weise sich auch vor jemand verantwortlich zu fühlen. Dieses Sich-verantwortlich-Wissen transzendiert alle abstrakten Prinzipien und verweist so auf ein Absolutes (Personhaftes). Fehlformen der Gewissenshaltung des Herzens sind das Über-Gewissen oder skrupulöse Gewissen, das oftmals bedingt ist durch eine überbetonte Strenge moralischer Forderungen, aber auch das Untergewissen oder laxe Gewissen mit der Abweichung nach unten. Eine weitere Not ist das unempfindliche oder abgestumpfte Herz sowie das lebensfremde Gesetzes-Gewissen, für das die Regungen zur Schablone erstarrt sind und das auf keine menschlichen Aspekte Rücksicht nimmt (das sog. Beichtspiegel-Gewissen). Im pharisäischen Gewissen werden kleine Pflichten überbetont und große und entscheidende dagegen vernachlässigt. Das "Herz" als Schlüsselbegriff der Anthropologie ist von großer sittlicher Bedeutung. Oft wird das Gebotene und Geforderte erst mit seiner Hilfe entdeckt und erkannt. Die Bedeutung des Herzens, des Gewissens, kommt im Recht auf Gewissensfreiheit zum Ausdruck und ist untrennbar mit der Würde des Menschen verbunden. Es ist ein überzeitliches und überstaatliches Recht, aus dem auch das Recht auf freie Religionsausübung abgeleitet wird (vgl. Vatikanum 11, Dekret über die Religionsfreiheit). Der Christ weiß sich durch die Offenbarung Gottes in das Mysterium Herz zu Herz gestellt. Gott, das Herz aller Dinge, hat in Jesus Christus sein Schweigen gebrochen und uns an sein Herz genommen. Im Glauben erfahren wir den An- und Zuspruch des personalen Gottes, der uns in diesem Ruf die höchste Möglichkeit des Menschseins auftut, d. h. uns im eigentlichen Sinne "individualisiert" und uns den Freiheitsraum auftut, fernab jeder Willkür sich in dieser Grundbeziehung der Liebe zu verwirklichen. Solch ein Herz weiß sich im Sinnhorizont des Glaubens geborgen. Im Philosophieren wird immer wieder eine Spannung bewusst zum Austrag gebracht zwischen vertrauten Mustern, Deutungen, Entwürfen und Systembildungen einerseits und dem Unvertrauten, weil Unsagbaren andererseits. Es handelt sich letztlich um die Spannung und den Widerstreit zwischen dem "Relativen" und "Absoluten", dem "Schönen" und "Erhabenen", dem argumentativen und inspirierten Denken, dem buchstäblichen und metaphorischen Sinn. Philosophisches Denken ist letztlich zweiwertig, d. h. analytisch und hermeneutisch. Es konvergiert in seinem Vorgehen im Sichtbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in der Welt und den objektiven Tatsachen. Wie komme ich zur Welt und wie stehe ich in ihr: wissend, handelnd, hoffend? Nach H. Blumenberg ist der Charakter der Wirklichkeit das Übermächtige, Unvertraute und Unheimliche. Das Sinnverlangen wächst, kann aber nicht gedeckt werden, sodass Kultur und Kunst der Welt uns fast schon ein Höheres zu insinuieren scheinen. Es kann nicht um ein erinnerungs- und besinnungsloses Fortschreiten gehen, sondern um Zeit und ihre Gegenwart, wie sie sich in der Erfahrung z. B. von Kunstwerken zu erschließen scheint. "Das Fremde muß und darf fremd bleiben, nur deswegen lernt man das Eigene an ihm. Doch man gewinnt zum Eigenen, indem man seine unwiederholbare Geschichte erfährt, ein freies Verhältnis", schreibt Günter Figal[26] zu Recht. "Weder der Abendstern noch der Morgenstern sind so wundervoll wie die Gerechtigkeit", so lautet der Hymnus des Aristoteles auf den gerechten Menschen als den Höchstfall des wahrhaft menschlichen Menschen. Mit diesem Grundwert wird das menschliche Zusammenleben möglich und der Beziehungsreichtum des Lebens, geschützt und begünstigt, sodass es gedeihen könne. Religion und Metaphysik stecken in einer tiefen Plausibilitätskrise. Wie aber ist es mit der Frage nach dem menschlichen Ethos? F. Nietzsche[27] hatte als die Gefahr aller Gefahren das "Alles hat keinen Sinn" bezeichnet. Man könnte noch hinzufügen: Die zwecklose Welt wäre auch die sinnlose, sodass H. Jonas eine metaphysikfreie Betrachtung der Natur ablehnt. Weltvertrauen setzt ein begrenztes Antlitz der Wirklichkeit voraus. Wie aber ist ethisches Handeln zu bestimmen? Wie wird man den Phänomen des zum menschlichen Bewusstseinsleben Gehörenden wie Freiheit, Moral, Kunst, Wissenschaft gerecht, ohne in die einseitigen Monismen wie "Materialismus" und "Idealismus" zu geraten. Scheitert der eine am Phänomen das Bewusstseins, so der andere an der Tatsache der Dinge an sich. Für H. Jonas liegt der Schlüssel zur Erkenntnis der teleologischen Struktur aller Organismen in uns selbst[28]. Die Innerlichkeit des Menschen ist Subjektivität und Freiheit, d. h. Vermögen und Notwendigkeit der Selbstsorge. Nur ein Wesen mit subjektiver Innerlichkeit kann sich um sich selbst kümmern. Es ist für sich Ziel und Zweck. Nur der Mensch ist des Selbst- und Weltbewusstseins fähig, kann sich haben, ist zu Ichbewusstsein und Reflexion imstande. Der Mensch als Spitze der Seinspyramide mit seiner Freiheit und Innerlichkeit ist zugleich das bedürftigste und sorgenvollste Wesen von allen. Und er ist sich seines Erfolges keineswegs sicher. Leben vergeht, nicht obwohl, sondern weil es Leben ist und trägt den Tod, seine Negation in sich selbst. Nur der Mensch ist zu unvergleichlicher Todesangst in der Lage. M. Heidegger definiert das menschliche Dasein als "ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, dass es diesem Seiendem in seinem Sein um dieses Sein geht."[29] Auch die Fähigkeit des homo ludens, im interesselosen Wohlgefallen das Schöne zu bestaunen, ist ein Schritt, der den Abstand zwischen Subjekt und Objekt voraussetzt. H. Jonas spricht vom "Adel des Sehens" (OF, 198), über den im Abendland vor allem die antiken Griechen verfügten. Für sie war "das Auge der vorzüglichste der Sinne" (OF, 198). Eine nur gute Gesinnung genügt dabei noch nicht, sondern stets sind die Folgen unseres Tuns mitzubedenken. Die menschliche Verantwortung ist auf die gesamte belebte Natur und die Dimension der Zukunft auszudehnen. Dieser komplexe Begriff der Verantwortung ist eine Bezugskategorie, die zum Ausdruck bringt, dass der Mensch vor einer Instanz für etwas verantwortlich ist, was ihm als Verpflichtung auferlegt ist. H. Jonas sieht diese Natur und den zukünftigen Generationen. Er beschreibt sie als "nicht-reziprokes Verhältnis" (PV, 177), Levinas als "eine nicht symmetrische Beziehung."[30] Das Übernehmen der Verantwortung für ein begegnendes Anderes und das Engagement für es geschieht ohne Rekurs auf eine Gegenleistung. Für K. Jonas ist ein verpflichtendes Gebot neuen Typs entstanden: "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden; oder negativ ausgedrückt: Handle so, dass die Wirkungen der Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftigen Möglichkeiten solchen Lebens" (PV, 36). Nicht der Mensch, sondern auch die Naturwesen besitzen Würde und Rechte. Alle Organismen haben eine Lebenswürdigkeit[31]. Vom Schöpfungsgedanken her ist uns ein schonender Umgang mit der Natur auferlegt. Jonas begründet. seine Verantwortungsethik von einer Metaphysik der ontologischen Seinsstruktur her, die dem Menschen vorgegeben ist. Mit der Hervorbringung des Lebens gibt die Natur das Leben selbst als Zweck kund. In der als Zweck gekennzeichneten Selbstsorge der Naturwesen ist ihre Selbstbejahung impliziert. Leben ist als Drang nach Mehr-Leben mehr als Leben, denn es enthält ein "Ja des Lebens" (PV, 156). Alles Leben strebt nach Selbsterhaltung, sodass jeder Organismus "für sich selbst und gegen das Nichts" sich entscheidet (PV), was signalisiert, "dass das Sein nicht indifferent gegen sich selbst ist" (PV, 155). Diese im Selbsterhaltungsstreben aller Lebewesen sich manifestierende Selbstbejahung ist der "Grundwert aller Werte" (PV, 155), ein "Gut-an-sich" (PV, 154), das das (scholastische) Axiom zum Ausdruck bringt, dass Sein mehr wert ist als Nichtsein.
ÜBER DIE LIEBE (1 Kor 13)
Im ältesten Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde zu Thessalonich lobt er eingangs ihren Glauben, dass er sich in Wirklichkeit erwiesen habe, dann ihre Mühe der Liebe und die Geduld der Hoffnung (1 Thess 1,3). Den Korinthern schreibt Paulus, sie seien durch Gottes Gnade in Christus Jesus "an allen Stücken reich gemacht, an aller Rede und in aller Erkenntnis" (1 Kor 1,5). Mitten über seine Ausführungen über die geistlichen Gaben oder Charismen in Kapitel 12 und 14 setzt er das Plädoyer für einen Weg darüber hinaus (1 Kor 12,31), den Weg der Liebe, der Liebe, die alle zu einer Einheit zusammenführt und voneinander abhängen lässt. Paulus entwirft eine stark bewegte und bewegende, hyperbolische Lobrede auf die Liebe im stilus gravis und genus sublime, dass der Adressat bewegt werde. Aus dem theologischen trivium Glaube, Liebe, Hoffnung stimmt er den Lobpreis auf die Liebe an. Den Exegeten sei mit dem Straßburger Theologen Johann Conrad Dannhauser zugerufen: "Ne asinus ad lyram! ne Midae hic auricula censuram sibi sumat" "Kein Esel an die Leier! damit nicht des Midas Ohr sich hier die Kritik herausnehme!"[32] Wegen mangelnden Geschmacks und wegen Urteilsschelte "in aesteticis" bekam König Midas zur Strafe Eselsohren, die er dann unter seiner Krone zu verbergen suchte. Paulus beginnt in 1 Kor 13,1-3 mit der captatio, denn es könne nicht an dem fehlen, was man für das Wichtigste hält, hier: an Liebe. Paulus zeichnet den Menschen in seinen höchsten Möglichkeiten: Er versammelt durch "Menschen- und Engelszungen" die ganze Bandbreite und die Klimax der Geist-Rhetorik. Alle Erkenntnis, aller Glaube, auch Liebe in ihrer Extrembeschreibung (Selbstverbrennung oder Einbrennen des Sklavenmales, sowie Hingabe allen Besitzes an die Armen) wird befragt. Manchmal gibt sich der Mensch hin, um der Liebe zu entgehen. Alte dynamisch-energetischen Aktivitäten und diakonischen Dienste werden befragt. Es gibt auch eine Liebe ohne Liebe. Von Anfang an geht es um die Trias, die Dreiheit christlicher Existenz, wobei Hoffnung als Gabe mit der prophetischen Weise des Hinaussehens ans Ende zusammengebracht wird. Erkennen ist nämlich Einsehen der Differenz der Zeitlichkeit. Für die Gegner in 1 Kor 15 kommt der Auferstehung Christi keine zukünftige Bedeutung mehr zu. Mit der bildkräftigen Formel vom Berge versetzenden Glauben (vgl. Mt 17,12; 21,2 = Mk 11,23) wird diesem Anteil an der Gotteskraft attestiert. Alles ist möglich dem, der glaubt (Mk 9,23). Aber seine differentia specifica kommt an der verlorengegangenen Liebe zutage. Die drei Fälle mit den fünf "Wenn"-Sätzen (ena) sind stilistisch paradoxe Satzantithesen: In den Vordersätzen kulminiert die Fülle des Gegebenen, aber dann wird dreimalig - adversativ unter dasselbe wenn", aber ins Konditionale hinüberspielend das Fehlen der Liebe eingeführt und das Ergebnis genannt: Nichts! Für Ohren, die hören können, ist das ein ungeheurer Sturz im Gehörgang! Die fehlende Liebe bringt zu Fall! Durch den Echo-Effekt (lalw - alalazon) kommt das Ironische im Scheitern zutage. In dieser argumentierenden Häufung von: wenn a und nicht b, dann c, den Enthymemen kommt es zur unmittelbar einleuchtenden wie schockierenden Schlussfolgerungen. Das logische Negat "Liebe" erscheint unvermittelt. In diesem parteilichen und verfremdenden Anlauf, Paulus spricht in der Ich-Form, um dialektisch und spirituell verstanden alle Wahrheit und Unwahrheit auf sich selbst zu beziehen und den Absturz in letztere auch an sich exemplifizieren. Im Hymnus der Liebe hat eine Polemik gegen andere keinen Platz, denn in einem Lobpreis der Liebe kann er die Liebe nicht vergessen, muss "ich" sagen, um sich aller Kritik selber zu stellen. Ähnlich spricht er in Röm 7 in der Ich-Form, wo alle Negation vom Ich des Apostels getragen ist, um - mit S. Kierkegaard zu sprechen - das Allgemeine auszudrücken. Das betont am Anfang stehende dreimalige "Wenn" legt den Finger auf die irreale Fiktion eines Ich, das meint, durch verzücktes Reden, tiefe Erkenntnis, bergeversetzenden Glauben und eine totale Liebesdiakonie den Gipfel erstiegen zu haben. Das zweimalige "Nichts" macht diese Höhe zur Fallhöhe ins Bodenlose. Sechsmal erhebt in den drei Versen das um sich kreisende Ich sein Haupt - "der homo religiosus christianus - in seinen höchsten Möglichkeiten" und wird radikal an der Liebe gemessen. Günter Bornkamm hat in seiner Analyse gezeigt, wie Form und Inhalt der ersten drei Verse genau zusammenstimmen: "Fünfmal setzen die bedingenden Vordersätze gleichmäßig an; sie rollen wie Wellen heran, im zweiten Vers zu drei Satzgliedern... anschwellend, und zerschellen an dem dreimal gleichen (und hätte der Liebe nicht), und die Nachsätze bringen diese Vergeblichkeit das Anlaufs mit eindringlicher Gleichmäßigkeit zum Ausdruck: (so wäre ich nichts, es nützte mir nichts)."[33] In der deutschen Übersetzung gibt der immer wiederkehrende Irrealis "wäre", "hätte", "wüsste", "gäbe" und "ließe" dies gut wieder: alles zählt nicht, wenn die Liebe fehlt. Der über alles hinaus gehobene Mensch vollzieht nach Paulus seinen tiefsten Sturz ohne Liebe, weil ihm das fehlt, was allem Reden, Wissen, Glauben und Tun zutiefst trägt. Der "homo incurvatus in se" hat nur sich selbst im Blick in all seinem Sein, Tun und Haben. Sein Leben ist ein Schein-Leben, ein Nicht-Leben, weil er sich nicht auf den Ton der Liebe stimmt. In effektiver und intellektueller Steigerung kam die Parteilichkeit des Redners für die Sache der Liebe ans Licht. Nun kann er vorn Walten der Liebe reden, indem er beschreibt, was sie tut und nicht tut. Der Gegenstand des Preisens wird durch Ja- und Nein-Aussagen und im Stil der Aretalogien/Tugendkataloge bestimmt. Zwei affirmativen Prädikaten stehen acht negierende Prädikationen gegenüber. In V.4-7 ist der Bogen der logischen Qualität kunstvoll gespannt über das Affirmative, Negative und Universale (V.7: "sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, duldet alles"). Damit ist die Liebe Antwort auf das viermalige "Alleskönnen" von V.1-3. a) langmütig und freundlichDer Leitfaden der Beschreibung spiegelt die Situation der Parteiungen in Korinth: hier ist Streit (1 Kor 1,11) mit der gegenseitig sich strafenden Ereiferung (eriV und zhloV gehören zusammen: 1 Kor 3,3; 2 Kor 12,20; Gal 5,20). Langmut hat, wer weiter sieht und einen "langen Atem" hat - wie Gott - kann seinen Zorn im Zaume halten. Lang/Großmut und Freundlichkeit/Sanftmut sind die beiden Grund-Vollkommenheiten der Liebe. b) eifert nicht / sucht nicht das IhreKritisch kommen nun die 2³ = 8 Laster falscher Vollkommenheit in den Blick und zerfallen in zwei Gruppen: einerseits das "Eifern" und andererseits "das Seine Suchen". Das Eifern wird als falsches zhloun - denn es gibt auch ein gutes (1 Kor 12,31; 14,1; 2 Kor 11,2) - charakterisiert, als Sich-Ereifern. Es wird dreifach konkretisiert mit sich brüsten, sich aufblähen, die Form des Schicklichen (aschmonein) verlieren. Das "Sich aufblähen" (jusioun) hat die Gnostiker (gnwsiV, 1 Kor 8,1) im Blick und ihr vermeintliches Wissen der göttlichen Geheimnisse (4,1.6) als Formen der Selbstbezüglichkeit. In der zweiten Gruppe unter dem Aspekt "das Seine suchen" wird dreifach das Verhalten zum Nächsten beschrieben: sich reizen lassen, das Böse zurechnen, sich an Ungerechtigkeit freuen (sc. die der andere getan hat). Ist hier von der Liebe die Rede, so indirekt auch von ihrer sie subkutan bedrohenden Gegnerin, der Gnosis. c) erträgt alles / duldet allesDie vier Glieder, die zeigen, wie die Liebe aufs Ganze geht, bestimmen einander paarweise näher: Hoffnung stimmt auf Freude, weil sie den Bedingungen der Wirklichkeit standhält und zum Leiden befähigt. ElpiV und upomonh bestimmen sich gegenseitig als universal (vgl. 1 Thess 1,3; Röm 5,3-8; 8,25; 15,4; Hebr 10,23.36). Auch Glauben und Hoffen bilden eine dialektische Einheit, denn Glauben ist ein Akt der Vergegenwärtigung und schenkt Frieden, die Hoffnung sieht das Zukünftige und stimmt auf Freude (Röm 15,13; 5,1f). Die vier "alles"-Zeit-Wörter bilden untereinander ein durch die Liebe getestetes Existential christlicher Erfahrung und Lebensführung (vgl. Gal 5,22). Wer oder was denn ist die Liebe? Paulus beschreibt sie in fünfzehn Verben, macht sie zum Subjekt und entfaltet ihr Tun. Sören Kierkegaard hat in seinen christlichen Reden "Der Liebe Tun" beschrieben im Rekurs auf 1 Kor 13. Eine seiner Thesen lautet: "Die Liebe setzt voraus, dass die Liebe in des andern Menschen Herz zugegen ist, und unter dieser Voraussetzung eben erbaut er in ihm die Liebe - von Grund auf, sofern er sie ja liebend im Grunde voraussetzt." [34] Dieses "Voraussetzen" unterscheidet den Liebenden von allen, die von einem Mangel ausgehen und zu etwas kommen wollen. Setzt der Lehrer voraus, dass seine Schüler Unwissende seien, so aber der Liebende, dass die Liebe im anderen schon da sei und gerade dadurch locke er das Gute hervor. Das höre sich so leicht an und sei als Bewegung auch das Leichteste. Es tue jedem Menschen wohl und verändere ihn, ohne dass man eigentlich wisse, wie. Zugleich aber sei es das Schwierigste, dass ein Mensch gegen den eigenen Drang vorgehen solle, über den anderen Menschen zu herrschen. "Es kann deshalb den Menschen reizen, Baumeister zu sein, weil es anscheinend heißt, über andere zu herrschen; aber erbauen, wie die Liebe es tut, kann nicht reizen, denn es heißt eben, der Dienende sein; deshalb hat nur die Liebe Lust zu erbauen, weil sie bereit ist zu dienen." Und weiter schreibt Kierkegaard: "Schau, hier zeigt sich eben, wie schwierig die Baukunst ist, welche die Liebe übt und die sich beschrieben findet an jener berühmten Stelle beim Apostel Paulus (1 Kor 13); denn was dort von der Liebe gesagt ist, ist eben die nähere Bestimmung dessen wie sie sich beim Erbauen verhält. 'Die Liebe ist langmütig', dadurch erbaut sie; denn Langmut heißt ja eben, beharrlich voraussetzen, dass die Liebe doch im Grunde gegenwärtig ist. Deshalb trägt sie nicht Neid auch nicht Groll, denn Neid und Groll leugnen die Liebe in dem andern Menschen und verzehren deshalb, falls es möglich wäre, die Grundfeste. Die Liebe, welche erbaut, trägt dagegen des anderen Menschen Mißverständnis, seine Undankbarkeit, seinen Zorn - daran hat sie schon genug zu tragen, wie sollte die Liebe dann zugleich Neid und Zorn tragen können!... Die Liebe suchet nicht das Ihre, deshalb erbaut sie. Denn wer das Seine sucht, muß ja alles andere beiseite schaffen, er muß niederreißen, um Platz zu bekommen für das Seine, das er erbauen will. Aber Liebe setzt voraus, dass Liebe im Grunde zugegen ist, deshalb erbaut sie. Sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit... Liebe hingegen freut sich an der Voraussetzung, dass die Liebe im Grunde zugegen ist, deshalb erbaut sie...; sie bläht sich nicht in der Meinung, dass sie die Liebe in dem andern Menschen schaffen sollte, sie ist nicht erbittert und mutwillig, ungeduldig, fast hoffnungslos geschäftig, erst niederreißen zu müssen, um dann wieder aufzubauen; nein, sie setzt stets voraus, dass die Liebe im Grunde zugegen ist. Deshalb ist es unbedingt der erbaulichste Anblick, die Liebe erbauen zu sehen, ein Anblick, durch den selbst Engel erbaut werden."[35]
Vergleich zwischen der Liebeund den Gaben der Korinther (V.8-11)a) Die Liebe fällt niemals dahinWorauf die Korinther setzen: "ob Prophezeiungen - fallen weg! ob Zungenreden - hören auf! ob Erkenntnis - fällt weg! ist die Liebe das niemals hin und wegfallende und so eine eschatologische Macht." Ihr und nicht der Gnosis mit ihrem überschwenglichen Wissen und überschwenglicher Rede kommt Führung, Priorität und Supremat zu. Sie ist eine ontologische Wirklichkeit. Der Hinweis auf die Geduld der Liebe (V.7) als ihrem Alltagskleid richtet sich der Ausblick bereits auf das Bleibende ihres Wesens. Es wird, um das herauszustellen, der Gegensatz zwischen dem vergänglichen Stückwerk und dem Vollkommenen und der zwischen Jetzt und Dann herausgestellt. Durchgeführt aber wird er durch den doppelten Vergleich "Kind und Mann" (V.11) sowie durch den "Spiegel" mit der Differenz der vermittelten mittelbaren und der einstigen unmittelbaren Anschauung. Letzter wird in V.12 über sich hinausgeführt in der Schau "von Angesicht zu Angesicht", die letztlich das Geschenk vollkommener Erkenntnis ist. Die Spannung von jetzt und dann wird in V.13 in dem "nun aber" sistiert und ans Ziel gebracht. Angesichts der Hinfälligkeit aller übrigen Gnadengaben ist das Bleiben der Liebe das Wunder Gottes schlechthin. Es ist der Erweis des Vollkommenen. "Weil die Sonne aufgeht, darum erlöschen alle Lichter" (K. Barth). Das Vollkommene ist die Relativierung alles Menschenmöglichen und Vorläufigen. Sie gleichen der Kinderrede und dem kindlichen Denken oder dem verzerrenden Blick in einen Spiegel. Es wird überboten vom Erkanntsein von Gott her (vgl. das hebräische jadah), das ein Geliebtsein einbegreift. Erkennen und Lieben fallen zusammen. Sucht das philosophische Erkennen gnoseologisch sich seines Gegenstandes zu bemächtigen, und so zu siegen, so hat im Erkanntsein als Bewegung von jenseits unserer Selbst die Liebe das erste und letzte Wort, first last and least. "Die Liebe höret nimmer auf" ist kein Wort für ein Poesiealbum, sondern im Kern ein österlicher Satz. Im Gleichnis vom Erwachsenwerden (V.11) werden die beiden Momente des Seins - und des Rechtsvorgangs verdeutlicht: Das Kind wird Mann und mündig, das Kindsein ist vorbei. In Umkehrung jedoch befindet sich der Gnostiker im puerilen Stau während der Liebende der Erwachsene und Vollkommene ist. Unter den Bedingungen der Zeit erweist sich die Erkenntnis als bruchstückhaftes Stückwerk (V.9). In der Erkenntnis selbst ist die eschatologische Differenz impliziert, aber auch ihr Mangel. Die Liebe ist darin überlegen, dass sie bereits hier ganz sein kann, weil das wirkliche Leben ihr Medium und ihr Test ist. Paulus bestreitet dem gnostischen Hochgefühl seiner Gegner die Qualität des Vollkommenseins (V.10f) und stellt sie auf die Stufe der Unmündigen. b) Erkannt werdenWorin die Liebe groß ist, ist ihre Fähigkeit sich im anderen zu finden. Sie kann unter ihrem Gegenteil, unter Schwachheit und Leiden, ganz bleiben im Ertragen und Dulden. "Dann werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin" (V.12d). In dieser Verkehrung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses ist die Liebe vom Geliebtsein her bestimmt. c) Spiegel, RätselIngmar Bergmann hat einen Film gestaltet und ihm das Motto aus 1 Kor 13 "Wie in einem Spiegel" gegeben. Ist das irdische Sehen ein gebrochenes, in Spiegel und Rätsel: die Lösung im Rätsel ist Differenz und Identität zugleich. Auch das ungebrochene direkte Einsseins des Gnostikers mit dem Geschauten wird bestritten. Hier ist nur eine Anschauung Gottes im Spiegel möglich. Die gegossenen Metallspiegel der Antike gaben nur ein unscharfes und verzerrtes Bild wider. Das vollkommene Schauen ist erst im Eschaton möglich: "von Angesicht zu Angesicht". Philo interpretiert Ex 33,13 (Leg. Alleg. III, § 99-101) folgendermaßen: "...Laß mich deine Pläne wissen, damit ich dich erkenne..." mit den Worten: "Erscheine mir nicht in dem, was im Himmel oder auf Erden ist... Laß mich auch nicht im Spiegel schauen in irgend einem anderen Ding dein Bild, sondern in dir selbst, o Gott."
Schluss und Integration: das Bleiben der LiebeAls die größte in der bleibenden Trias bleibt sie, weil Gott die Liebe ist. Dieses in geschaffener und pointierte Diktion komponierte Plädoyer für die Liebe ist von dichterischer Schönheit und Aussagekraft, analog dem liturgischen Lobpreis auf die göttliche Weisheit (vgl. Spr. 8; Weish 6-9). Weish 7,7 heißt es: "Deshalb flehte ich, und Einsicht ward mir gegeben; ich rief Gott an, und es kam zu mir der Geist der Weisheit." Das "Hohelied der Liebe" aber fordert die Adressaten auf, sich dem Mysterium der Liebe anheim zu geben. Die asyndetisch nebeneinander gesetzten kurzen verbalen Aussagen stammen aus der jüdisch-hellenistischen Lehrtradition[36] und beschreiben die Seinsweise des Frommen. An die Stelle der personalen Aussage ist das Subjekt des Handelns die Liebe selbst. Die Liebe wird als göttliche Möglichkeit der christlichen Existenz hingestellt[37].
Anmerkungen
|