Ronald D. Laing

Mystifizierung, Konfusion und Konflikt

Man kann manchen manchmal etwas vormachen...


Marx benutzte den Begriff der Mystifizierung im Sinne einer nicht zu durchschauenden Verdrehung dessen, was vor sich geht (Prozess) oder was getan wird (Praxis), im Dienste der Interessen einer sozioökonomischen Klasse (der Ausbeuter) über oder gegen eine andere Klasse (die Ausgebeuteten). Indem die Ausbeuter Formen der Ausbeutung als Formen der Wohltätigkeit darstellen, verwirren sie die von ihnen Ausgebeuteten so sehr, dass diese sich mit ihren Ausbeutern eins fühlen oder für ihre (nicht erkannte) Ausbeutung dankbar sind und sich nicht zuletzt schlecht oder verrückt vorkommen, wenn sie auch nur an Rebellion denken.

Wir können uns den theoretischen Bezugsrahmen von Marx nicht nur zur Erhellung der Beziehungen zwischen Gesellschaftsklassen, sondern auch der wechselseitigen Interaktion von Person zu Person zu nutze machen.

Jede Familie hat ihre Differenzen (die von leichten Meinungsverschiedenheiten bis zu gänzlich unvereinbaren und widersprüchlichen Interessen und Standpunkten reichen), und jede Familie verfügt über bestimmte Mittel zu ihrer Handhabung. Eine Art, solche Widersprüche zu behandeln, soll hier unter dem Stichwort Mystifizierung dargestellt werden.

Ich werde in dieser Arbeit in diskursiver Form diesen und einige verwandte Begriffe vorstellen, wie sie zur Zeit in Forschungsarbeit und Therapie mit Familien von Schizophrenen, Neurotikern und Normalen in der Tavistock Clinic und am Tavistock Institute of Human Relations, London, entwickelt werden1. Ich werde den Begriff der Mystifizierung mit bestimmten eng verwandten Begriffen vergleichen und gewisse Aspekte der untersuchten Familien kurzgefasst darstellen, wo bei ich hoffe, den heuristischen Wert der theoretischen Erörterung und ihre entscheidende Bedeutung für die Therapie demonstrieren zu können. Allerdings werde ich dabei nicht auf die praktischen Aspekte der Therapie eingehen.

 

Der Begriff der Mystifizierung

Unter Mystifizierung verstehe ich sowohl den Akt des Mystifizierens als auch den Zustand des mystifiziert Werdens. Das heißt, ich benutze den Ausdruck im aktiven wie im passiven Sinne.

Mystifizieren im aktiven Sinne bedeutet, einen Vorgang vertuschen verschleiern, verdunkeln oder maskieren, gleichviel, ob es sich um Erleben, Aktion, Prozess oder sonst etwas handelt, das zur »Streitfrage« werden kann. Dadurch entsteht Verwirrung: Es wird unmöglich, zu erkennen, was wirklich erlebt oder getan wird oder was vor sich geht, und es wird unmöglich, die tatsächlichen Streitpunkte festzustellen und zu unterscheiden. Die Folge ist, dass richtige Auffassungen hinsichtlich dessen, was erlebt oder getan wird (Praxis) bzw. vor sich geht (Prozess), durch falsche Auffassungen ersetzt und Scheinfragen als die tatsächlichen Streitobjekte ausgegeben werden.

Der Zustand der Mystifizierung, die Mystifizierung im passiven Sinne also, kann, muss aber nicht, mit dem Gefühl identisch sein, konfus gemacht oder verwirrt zu werden. Die Mystifizierung als Akt tendiert entschieden dazu, falls sie nicht durch Gegenwirkung neutralisiert wird, einen Zustand der Mystifikation oder Konfusion zu erzeugen, der nicht notwendigerweise als solcher empfunden wird. Das Gefühl der Verwirrtheit und das Erlebnis von Konflikt müssen von der Mystifizierung als Akt wie als Zustand unterschieden werden. Obwohl die Mystifizierung auch die Funktion hat, einen echten Konflikt zu vermeiden, ist der Ausbruch offenen Konflikts bei mystifizierenden und mystifizierten Familien Gang und Gäbe. Der Verschleierungseffekt der Mystifizierung kann den Konflikt nicht verhindern, wenn er auch das, um was es geht, verbirgt.

Dieser Effekt lässt sich erhöhen, wenn man die Mystifizierung besiegelt, indem man den Akt der Wahrnehmung von Mystifikation als das, was sie ist, mystifiziert - das heißt, indem man die Wahrnehmung der Mystifikation zum Gegenstand eines Streites macht, der sich darum dreht, ob es nicht schlecht oder verrückt sei, so etwas wahrzunehmen.

Die Person, die mystifiziert wird, gerät also entschieden in Verwirrung, muss sich aber nicht unbedingt verwirrt fühlen. Wo wir auf Mystifizierung stoßen, werden wir auf die Existenz irgendeines Konflikts aufmerksam, dem ausgewichen wird. Der Mystifizierte ist, soweit er der Mystifikation erliegt, unfähig, den authentischen Konflikt zu sehen, erlebt aber möglicherweise intrapsychische oder zwischenmenschliche Konflikte einer nicht authentischen Art. Er kann einen trügerischen Frieden, eine gleisnerische Ruhe erleben oder in nicht authentischen Konflikt oder Konfusion über falsche Streitfragen gestürzt werden.

Auch im täglichen Leben begegnet uns die Mystifizierung in bestimmtem Maße. So ist es zum Beispiel üblich, einen anderen hinsichtlich seines Erlebens zu mystifizieren, indem man den Erlebnisinhalt bestätigt, die Art und Weise des Erlebens dagegen in Abrede stellt (wobei Wahrnehmung, Vorstellung, Phantasie und Träumen als getrennte Erlebnisweisen aufgefasst werden, eine Theorie, die an anderer Stelle [Laing, 1962] entwickelt worden ist).

Widersprechen sich also die Wahrnehmungen zweier Menschen, so sagt der eine zum andern: »Das bildest du dir bloß ein.« Das heißt, es wird der Versuch gemacht, einen Widerspruch, einen Gegensatz, eine Unstimmigkeit zu unterlaufen oder aufzuheben, indem man die Erlebensweise des anderen von der Wahrnehmung in die Einbildung, von der Erinnerung einer Wahrnehmung in die Erinnerung eines Traumes transportiert (»Das musst du geträumt haben!«).

Eine andere Form der Mystifizierung besteht darin, dass der eine den Erlebnisinhalt des anderen bestreitet und ihm statt dessen Erlebnisqualitäten unterschiebt, die seiner eigenen Vorstellung vom anderen entsprechen (vgl. Brodeys [1959] Begriff der »narzisstischen Beziehung«).

Ein Kind spielt am Abend lärmend; seine Mutter ist müde und möchte, dass es ins Bett geht. Eine offene Erklärung wäre:

 

»Ich bin müde und möchte, dass du ins Bett gehst.«
Oder: »Geh ins Bett, weil ich dir das sage.«
Oder: »Geh ins Bett, weil es Zeit für dich ist, schlafen zu gehen.«

 

Eine mystifizierende Art, das Kind zum Zu-Bett-Gehen zu bewegen, wäre:

 

»Ich bin überzeugt, du bist müde, Liebling, und möchtest jetzt ins Bett, nicht wahr?«

 

Die Mystifizierung tritt hier in verschiedener Hinsicht auf. Was angeblich eine Bezeichnung für die Verfassung des Kindes ist (du bist müde), ist »in Wirklichkeit« ein Befehl (geh ins Bett). Dem Kind wird gesagt, wie es sich fühlt (ob es nun müde ist oder nicht), und das, was es angeblich fühlt, ist das, was die Mutter selbst fühlt (projektive Identifikation). Nehmen wir an, es fühlt sich nicht müde, dann wird es seiner Mutter vielleicht widersprechen. In diesem Fall wird es vielleicht einem weiteren mystifizierenden Verfahren unterworfen:

 

»Mutter weiß das am besten.« Oder: »Sei nicht frech.«

 

Die Mystifizierung kann sich auf Streitfragen beziehen, die etwas mit den Rechten und Pflichten jeder Person in der Familie hinsichtlich der anderen zu tun haben. So erklärt zum Beispiel ein 14jähriger Junge seinen Eltern, er sei unglücklich, und diese erwidern:

 

»Wie kannst du bloß unglücklich sein. Haben wir dir nicht alles gegeben, was du willst? Wie kannst du nur so undankbar sein, dass du sagst, du bist unglücklich, nach allem, was wir für dich getan haben, nach all den Opfern, die für dich gebracht worden sind?«

 

Die Mystifizierung erweist sich als besonders wirksam, wenn sie sich auf dieses System von Rechten und Pflichten in solcher Weise erstreckt, dass eine Person anscheinend das Recht hat, das Erleben eines anderen zu bestimmen, oder dass jemand in Ergänzung dazu verpflichtet ist, den oder die anderen, sich selbst, seine Welt oder irgendeinen Aspekt davon auf bestimmte Weise zu erleben oder nicht zu erleben. Zum Beispiel: Hat der Junge ein Recht darauf, unglücklich zu sein, oder muss er glücklich sein, weil er sich sonst als undankbar erweist?

Marxens Formulierung impliziert, dass der aufgeklärten Aktion die Entmystifizierung der Streitfragen vorangehen müsse. Mit Streitfrage meinen wir wie in der Jurisprudenz »den Punkt, der von der einen Partei bejaht, von der anderen bestritten wird« (Oxford English Dictionary). Die Streitfrage ist in unserem Material häufig die, wie die »wirkliche« oder »wahre« Achse der Orientierung zu bestimmen sei: Der strittige Punkt ist, worin der Streitpunkt bestehen soll. Streitigkeiten drehen sich oft um die Frage, über was man sich streitet - was sich abspielt, ist ein Konflikt oder Kampf darum, sich entweder zu vertragen oder den »Hauptstreitpunkt« zu bestimmen. In den Familien von Schizophrenen besteht einer der starrsten Aspekte des extrem starren Familiensystems oft in einer besonderen Orientierungsachse, die anscheinend die Sicherheitsnadel darstellt, mit der die ganze Familienstruktur zusammengehalten wird.

In einigen Familien wird jede Handlung der einzelnen Familienmitglieder unter dem Vorzeichen ihrer besonderen Orientierungsachse bewertet. Was ein auf diese Weise festgelegtes Familienmitglied tut, kann zur Streitfrage werden, und ebenfalls kann die Streitfrage sein, wie schon erwähnt, an welche Orientierungsachse man sich zwingend zu halten hat.

 

Die 28jährige Judith und ihr Vater haben häufig Streit. Er will wissen, wohin sie geht, wenn sie das Haus verlässt, mit wem sie zusammen ist, wann sie zurück sein wird. Sie sagt, er mische sich in ihr Leben ein. Er sagt, er tue lediglich seine Pflicht als Vater. Er sagt, sie sei unverschämt, weil sie ihm nicht gehorche. Sie sagt, er sei ein Tyrann. Er sagt, so dürfe sie nicht mit ihrem Vater reden. Sie sagt, sie habe das Recht, jede Ansicht zu äußern, die sie äußern will. Er sagt, vorausgesetzt, dass diese Ansichten richtig sind, und sie seien nun mal nicht richtig, usw.

 

Jedem, auch dem Untersucher, steht es frei, in irgendeinem Teil der familiären Interaktion eine Streitfrage auszumachen. Auch wenn alle Familienmitglieder sich über den Streitpunkt einig sind, heißt das noch nicht, dass die Untersucher ihn unter den gleichen Aspekten sehen müssen wie sie.

Für uns als Forscher wie als Therapeuten ist die Orientierungsachse: herauszufinden, welche Orientierungsachsen und Streitfragen für die einzelnen Mitglieder der Familie bestehen. Diese können explizit oder implizit zum Ausdruck kommen. Bestimmte Mitglieder einer Familie sind manchmal ausgesprochen unfähig, irgendeine Orientierungsachse zu erkennen oder zu merken, dass außer ihren eigenen Streitfragen noch andere bestehen.

Um zu erkennen, dass wir es mit Personen zu tun haben und nicht bloß mit Objekten, müssen wir uns darüber klar werden, dass der andere Mensch nicht nur ein anderes Objekt im Raum ist, sondern auch ein anderes Zentrum der Orientierung auf die objektive Welt. Gerade diese Anerkennung des anderen als unterschiedliches Orientierungszentrum, also als Person, ist es, was in den von uns untersuchten Familien von Schizophrenen zu kurz kommt.

Die Möglichkeit für Streitfragen ist so groß wie die Möglichkeit der Menschen, welche zu erfinden, doch haben wir uns angewöhnt, die Frage der mitmenschlichen Wahrnehmung bei allen untersuchten Familien als zentral zu betrachten. Mag diese Frage auch so zentral sein, wie wir sie empfinden, so haben wir uns doch immer zu vergegenwärtigen, dass die Familienmitglieder sie nicht unbedingt als solche sehen oder akzeptieren.

Besteht die aktive Mystifizierung in der Verhüllung und Maskierung der Praktiken und/oder Prozesse der Familie, der Vernebelung der Streitfragen und dem Versuch zu leugnen, dass das, was man selbst für die Streitfrage hält, von den anderen nicht so gesehen werden muss, so müssen wir uns fragen, wie wir entscheiden, was für uns die zentrale Frage ist, sofern unsere Wahrnehmung der zentralen Frage mit den Wahrnehmungen der Familienmitglieder selber nicht übereinstimmt.

Die einzige Sicherheit besteht hier darin, das Bild, das jeder einzelne (einschließlich wir selbst) sich von der »gemeinsamen Situation« macht, nachzuzeichnen und sodann die Evidenz für die Gültigkeit der verschiedenen Standpunkte zu vergleichen. Zum Beispiel kann man bestimmte Orientierungsachsen aufspüren, wenn man untersucht, wie die Aktionen der Familie von ihren einzelnen Mitgliedern bewertet werden:

Junes Mutter beschrieb die folgenden Veränderungen im Charakter ihrer Tochter, die (im Alter von 15) sechs Monate vor den für uns ersten Anzeichen von Psychose auftauchten. Ihre Persönlichkeit hatte sich in den letzten sechs Monaten gewandelt, nachdem sie in einem Ferienlager und zum erstenmal in ihrem Leben aus dem Haus gewesen war. Laut ihrer Mutter war June:

VORHER NACHHER
lebhaft ruhig
sagte mir alles sagt mir nicht, was in ihr vorgeht
begleitete mich überall hin möchte mit sich allein sein
war sehr glücklich und temperamentvoll sieht oft unglücklich aus; ist weniger temperamentvoll
liebte Schwimmen und Radfahren tut das nicht mehr so viel, sondern liest mehr
war »sensibel« hat »Jungens im Kopf«
spielte abends Domino, Dame und Karten... hat kein Interesse mehr an diesen Spielen...
...mit Mutter, Vater und Großvater ...sitzt lieber in ihrem Zimmer und liest
gehorchte ist ungehorsam und gehässig
hat nie an Rauchen gedacht raucht pro Tag ein bis zwei Zigaretten, ohne um Erlaubnis zu bitten
glaubte an Gott glaubt nicht mehr an Gott

 

In den sechs Monaten zwischen ihrer ersten Wahrnehmung solcher Veränderungen an June und dem Anfang des Prozesses, in dem wir einen psychotischen Zusammenbruch erkannten, hatte Junes Mutter zwei Ärzte konsultiert und über diese Veränderungen bei June geklagt, die sie als Äußerungen von »Krankheit« und vielleicht auch von Gottlosigkeit ansah. »Sehen Sie, das ist nicht June. Das ist nicht mein kleines Mädchen.« Keiner der Ärzte konnte bei June Anzeichen von Krankheit oder Schlechtigkeit entdecken. Die Mutter führte diese Veränderungen bei June, die für uns normale, kulturadäquate Reifungserscheinungen des Erwachsenwerdens und der Erlangung von größerer Autonomie darstellten, auf eine immer ernster werdende »Krankheit« oder auf »Schlechtigkeit« zurück. Das Mädchen war dieser Mystifizierung völlig ausgeliefert; denn obwohl sie autonomer wurde, vertraute sie immer noch ihrer Mutter. Da ihre Mutter ihr immer wieder sagte, ihre Entwicklung von Autonomie und sexueller Reife sei der Ausdruck von Verrücktheit oder von Schlechtigkeit, begann sie tatsächlich, sich krank und schlecht zu fühlen. Man kann darin eine Praxis ihrerseits sehen, den Widerspruch zwischen den Prozessen ihrer Reifung und dem von ihrer Mutter durch negative Bewertungen dagegen aufgerichteten Damm zu lösen zu suchen.

Von unserem Standpunkt aus erscheint June mystifiziert. Sie fühlt, sie hat eine reizende Mami, sie bittet um Verzeihung, weil sie so eine schlechte Tochter ist, sie verspricht, sich zu bessern. Obwohl sie an diesem Punkt darüber klagt, dass »Hitlers Soldaten hinter ihr her sind«, hat ihre Mutter in all den Interviews keine anderen Klagen über June als die, dass jene Prozesse der Entwicklung, die wir als höchst normal betrachten, schlecht oder verrückt sind.

Daraus geht hervor, dass die Mutter die Veränderungen bei June lediglich mit einer Orientierungsachse von gut-schlecht, gesund-verrückt erkannte und bewertete. Als June anfing, sich von einem psychotischen Zusammenbruch zu erholen, wurde ihre Mutter immer mehr in Furcht versetzt, June gehe es schlechter, da sie verstärkte Anzeichen von Schlechtigkeit an ihr wahrnahm, während wir an ihrer Tochter in gleichem Maße feststellten, dass sie eine größere Ich-Stärke und Autonomie gewann.

Zur Mystifizierung gehört untrennbar das Handeln einer Person gegenüber einer anderen. Sie ist transpersonal. Die intra-psychischen Abwehrmechanismen, mit denen uns die Psychoanalyse vertraut gemacht hat, oder auch die mannigfachen Formen der »bösen Absicht« im Sinne von Sartre sind inzwischen von Handlungsweisen gegenüber dem anderen bestens abgegrenzt worden. Es ist das Wesen der mystifizierten Aktion von Menschen untereinander (nicht der auf sie selbst gerichteten), auf das wir in dieser Arbeit besonders eingehen wollen.

Eine Person (P) ist bestrebt, in dem Anderen Veränderungen hervorzurufen, die für ihre (P's) Sicherheit notwendig sind. Mystifizierung ist eine Form der auf den Anderen gerichteten Handlung, die der Verteidigung, der Sicherheit der eigenen Person dient. Will jemand etwas nicht wissen oder sich nicht daran erinnern, so ist es für ihn nicht damit getan, dass er es verdrängt (oder es sonst wie »in« sich selbst abwehrt); er darf auch nicht durch den Anderen daran erinnert werden. Eine Person kann etwas selbst verleugnen; dann muss sie aber den Anderen dazu bringen, es ebenfalls zu verleugnen.

Natürlich muss nicht jede Handlung des Einen gegenüber dem Anderen, die im Dienste der Sicherheit, der Seelenruhe, des Selbstinteresses usw. des Einen steht, eine Mystifizierung sein.

Es gibt viele Arten von Überredung, Zwang, Drohung, durch die der Eine das Verhalten des Anderen zu kontrollieren, zu lenken, zu benutzen und zu manipulieren trachtet.

Wenn man sagt: »Ich vertrage es nicht, wenn du darüber sprichst. Bitte sei ruhig«, so ist das ein Versuch, den Anderen hinsichtlich dieses Themas zum Schweigen zu bringen, aber keine Mystifizierung.

Ebenso liegt keine Mystifizierung vor, wenn erklärt wird: »Wenn du nicht aufhörst damit, knalle ich dir eine!« Oder: »Ich finde, so etwas Abscheuliches sollte man nicht sagen. Ich bin sehr ärgerlich über dich.«

Im folgenden Beispiel hat man einen Jungen durch Drohung mit etwas sehr Unangenehmen dazu gebracht, seine eigene Erinnerung zu verleugnen. Die Taktik ist jedoch keine Mystifizierung:

 

Ein vierjähriger Junge hatte eine Beere in seine Nase gesteckt und kriegte sie nicht wieder heraus. Er sagte das seinen Eltern, und die besahen sich die Nase, konnten aber nichts finden. Sie wollten nicht recht glauben, dass er eine Beere in die Nase gekriegt hatte, aber er klagte über Schmerzen, und so holten sie einen Arzt. Der schaute und konnte nichts finden. Er zeigte dem Jungen ein langes, blitzendes Instrument und sagte: »Ich kann nichts finden, aber wenn du morgen noch sagst, es ist da, dann werden wir das mit dem hier herausholen.« Der Junge war so entsetzt, dass er »beichtete«, die ganze Geschichte erfunden zu haben. Erst volle zwanzig Jahre später brachte er den Mut auf, sich selbst einzugestehen, dass er tatsächlich eine Beere in seine Nase gesteckt hatte.

 

Im Gegensatz dazu ist das Folgende ein Beispiel für Mystifizierung:

 

MUTTER: Ich bin nicht böse, dass du so redest. Ich weiß ja, du meinst es nicht wirklich so.
TOCHTER: Aber ich meine es so.
MUTTER: Nun, Liebes, ich weiß, du meinst es nicht so. Du kannst dir nicht selber helfen.
TOCHTER: Ich kann mir selber helfen.
MUTTER: Nein, Liebes, ich weiß, du kannst es nicht, denn du bist krank. Würde ich einen Augenblick vergessen, dass du krank bist, dann wäre ich sehr wütend auf dich.

 

Hier benutzt die Mutter ganz naiv eine Mystifikation, die den innersten Kern eines Großteils von Sozialtheorie ausmacht. Damit wird Praxis (was eine Person tut) in Prozess verwandelt (eine unpersönliche Kette von Ereignissen, die keinen Urheber haben). Diesen Trennungsstrich zwischen Praxis und Prozess hat Sartre (1960) mit außerordentlicher Klarheit gezogen2.

Leider neigen wir dazu, diese besondere Mystifikation zu zementieren, wenn wir den Begriff der »Pathologie« der Familie oder Gruppe benutzen. Der Begriff der individuellen Psychopathologie ist schon problematisch genug, da man ohne Spaltung und Verdinglichung von Erleben und Verhalten, um zur Vorstellung von einer »Psyche« zu kommen, dieser Fiktion keine Pathologie oder Physiologie zuschreiben kann. Von der »Pathologie« der Familie zu sprechen, ist aber noch problematischer. Die Prozesse, die sich in einer Gruppe abspielen, werden durch die Praxis ihrer einzelnen Mitglieder erzeugt. Mystifizierung ist eine Form der Praxis; sie ist kein pathologischer Prozess.

Die Mystifizierung erreicht ihren theoretisch höchsten Grad, wenn die Person (P) in dem Anderen (A) Konfusion (die A nicht unbedingt bemerken muss) hinsichtlich des gesamten Erlebens (Erinnerung, Wahrnehmungen, Träume, Phantasie, Vorstellung), der gesamten Prozesse und Aktionen von A zu erzeugen sucht. Der Mystifizierte ist jemand, dem man zu verstehen gibt, dass er sich glücklich oder traurig fühlt, ohne Rücksicht darauf, wie er fühlt, dass er sich fühlt; jemand, den man für dieses oder jenes verantwortlich macht oder nicht, ohne Rücksicht darauf, welche Verantwortung er übernommen oder nicht übernommen hat. Es werden ihm Eigenschaften oder ein Mangel an bestimmten Eigenschaften zugeschrieben, ohne dass man sich auf ein gemeinsames empirisches Kriterium bezieht, mit dem sich diese Eigenschaften näher bestimmen ließen. Seine eigenen Motive und Absichten werden herabgesetzt bzw. verkleinert und durch andere ersetzt. Sein Erleben und seine Handlungen werden grundsätzlich ohne Bezug zu seinem eigenen Standpunkt ausgelegt. Man unterlässt es überhaupt, von seiner Selbstwahrnehmung und Selbstidentität Notiz zu nehmen3. Und natürlich sind, wenn das der Fall ist, nicht nur seine Wahrnehmungen von sich selbst sowie seine Selbstidentität konfus; auch seine Wahrnehmungen anderer, wie sie ihn erleben und ihm gegenüber handeln, seine Vorstellungen davon, wie sie denken, dass er denkt usw. sind zur selben Zeit zwangsläufig vielfältigen Mystifikationen unterworfen.

 

Die Funktion der Mystifizierung

und einige verwandte Begriffe

Die Hauptfunktion der Mystifizierung besteht anscheinend darin, den Status quo zu erhalten. Sie kommt ins Spiel oder wird verstärkt, wenn ein Mitglied oder auch mehrere Mitglieder des Familiennexus (Laing, 1962) den Status quo dieses Nexus durch die Art ihres Erlebens oder Handelns in der mit den anderen Familienmitgliedern geteilten Situation bedrohen oder man auch nur meint, dass sie ihn bedrohen.

Die Mystifizierung hat die Funktion, stereotype Rollen zu verteidigen (Ryckoff, Day und Wynne, 1959) und andere Menschen in eine Schablone, ein Prokrustes-Bett zu pressen (Lidz, Cornelison, Terry und Fleck, 1958). Die Eltern kämpfen um die Erhaltung ihrer eigenen Integration, indem sie ihre starre vorgefasste Meinung über sich und das, was sie sein sollten, über ihre Kinder und das, was diese sein sollten, und die Art der Situation, die das Familienleben kennzeichnet, ständig beibehalten. Sie sind unzugänglich (Lidz u. a., 1958) für jene emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder, die ihre vorfabrizierten Schemata zu sprengen drohen, und sie maskieren oder verschleiern Störungssituationen in der Familie so, als würden sie gar nicht existieren (Lidz u. a., 1958). Unzugänglichkeit und Maskierung sind ganz regelmäßige Begleiterscheinungen der Mystifizierung in unseren Zeitläuften - etwa wenn sie durch ein auf den anderen gerichtetes Verhalten unterstützt werden: zum Beispiel, indem man den Anderen glauben machen will, seine emotionalen Bedürfnisse würden befriedigt, während sie eindeutig unbefriedigt bleiben; indem man solche Bedürfnisse als unvernünftig, hemmungslos oder egoistisch hinstellt, weil die Eltern nicht in der Lage oder nicht bereit sind, sie zu erfüllen; oder indem man dem Anderen einzureden versucht, dass er sich nur einbildet, Bedürfnisse zu haben, sie »in Wirklichkeit« aber nicht hat, und so weiter.

Unnötig zu sagen, dass die Beziehung zwischen Mystifizierendem und Mystifiziertem niemals in echtem Sinne einer der gegenseitigen Bestätigung sein kann. Was der Eine vielleicht bestätigt, ist eine vom Anderen aufgerichtete Fassade, ein vorfabriziertes Schema auf Seiten des Einen, das der Andere mehr oder weniger zu verkörpern hat. Ich habe bereits anderorts versucht, bestimmte Formen derartig unechter Beziehungen darzustellen (Laing, 1960, 1961).

Derartige Begriffe kommen dem der nicht-gemeinsamen Komplementarität (nonmutual complementarity) nahe, der von Wynne und seinen Mitarbeitern entwickelt wurde. Die von diesen Autoren beschriebene starke Pseudo-Gemeinschaft, »das überwiegende Aufgehen im Zusammenschluss auf Kosten der Differenzierung der Identitäten« (Wynne u. a., 1958), stimmt in bedeutendem Maße mit unseren eigenen Befunden überein.

Die Mystifizierung erscheint als eine (in den Familien von Schizophrenen hoch entwickelte) Technik, die starre Rollenstruktur in solchen pseudo-gemeinsamen Verbindungen aufrecht zu erhalten. Wir untersuchen zur Zeit, in welchem Ausmaß und auf welche Weise Pseudo-Gemeinschaft und Mystifizierung in den Familien von Nicht-Schizophrenen vorkommen.

So hat Lomas (1961) die Familie eines als hysterisch diagnostizierten Mädchens beschrieben, in der ein unechter Zusammenhalt und starr verteidigte stereotype Rollen mit erstickendem Charakter klar zu Tage traten.

Searles (1959) beschreibt sechs Arten, den anderen verrückt zu machen bzw. Techniken, die darauf abzielen, »das Vertrauen des anderen in die Zuverlässigkeit der eigenen Gefühlsreaktionen und in seine Wahrnehmung der äußeren Realität zu untergraben«. Ich habe Searles' sechs Arten der Schizogenese leicht umgearbeitet und in folgende Form gebracht:

  1. P macht A wiederholt auf Bereiche der Persönlichkeit von A aufmerksam, die A nur schwach bewusst sind und die ganz im Widerspruch zu der Art von Person stehen, als die A sich selbst betrachtet.

  2. P reizt A sexuell in einer Situation, in der es für A einer Katastrophe gleichkäme, sexuelle Befriedigung zu suchen.

  3. P setzt A einer gleichzeitigen Stimulation und Frustration bzw. einem raschen Wechsel von Stimulation und Frustration aus.

  4. P wendet sich an A auf mehreren Ebenen zugleich, die keine Beziehung zueinander haben (z. B. sexuell und intellektuell).

  5. P schaltet von einer emotionalen Wellenlänge auf die andere um, während das Gesprächsthema gleich bleibt (indem er dieselbe Sache erst »ernst« und dann »im Spaß« behandelt).

  6. P wechselt das Thema, ohne die emotionale Wellenlänge zu wechseln (d. h. eine Sache von lebenswichtiger Bedeutung wird in derselben Weise erörtert wie das banalste Ereignis [Laing, 1961, S. 131-132]).

Jeder Modus dieser Art von Schizogenese ist dazu angetan, das Opfer in Verwirrung zu stürzen, ohne dass es unbedingt erkennt, in welcher Verwirrung es steckt. In diesem Sinne handelt es sich jeweils um Mystifizierung.

Ich habe darauf hingewiesen (Laing, 1961, S. 132-136), dass das schizogene Potential solcher Manöver nicht so sehr in der Aktivierung verschiedener Persönlichkeitsbereiche gegeneinander, also der Auflösung eines Konflikts besteht, als vielmehr in der Erzeugung von Konfusion, Verwirrung oder Zweifel, die oft nicht als solche erkannt werden.

Diese Betonung des Unbewussten, der unbewussten Konfusion bzw. des unbewussten Zweifels an sich selbst, an dem oder den anderen und an der gemeinsamen Situation, diese Betonung also eines Zustands der Mystifizierung hat viel gemeinsam mit Haleys (1959b) Hypothese, dass die Kontrolle der Definierung des Verhältnisses ein Zentralproblem in der Verursachung von Schizophrenie ist. Der Mystifizierte operiert unter Bedingungen, die für ihn unredlich definiert worden sind. Diese Definition manövriert ihn in einen Zustand der Verteidigungsunfähigkeit, ohne dass er ihn erkennen oder ohne dass er verstehen kann, warum er wohl das intensive, aber vage Gefühl hat, dass es so ist (Laing, 1961, S. 135). Er versucht dann vielleicht, seiner Verteidigungsunfähigkeit in der mystifizierten Situation zu entrinnen, indem er die Mystifizierung seinerseits vertieft.

Der Begriff der Mystifizierung überschneidet sich mit dem des double-bind (Bateson, Jackson, Haley und Weakland, 1956), ist aber kein Synonym für dieses. Das double-bind scheint zwar zwangsläufig mystifizierend zu sein, doch muss Mystifizierung nicht unbedingt ganz ein double-bind sein. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass dem Mystifizierten, im Gegensatz zur »doppelt gebundenen« Person, ein relativ eindeutiger »rechter« Weg der Erfahrung und des Handelns offen gelassen wird. Dieser richtige Erfahrungsgegenstand und diese richtige Handlungsweise bedeuten zwar für uns als Forscher und Therapeuten einen Verrat an den Möglichkeiten der Selbstverwirklichung des Betreffenden, doch muss dieser es keineswegs so empfinden. In der mystifizierten Situation die richtigen oder falschen Dinge zu tun, kann jedoch bloß relativ unzweideutig sein. Das Tourniquet kann stets noch um eine weitere Windung zusammengepresst werden, und mehr bedarf es nicht, damit die mystifizierte Situation im vollen Sinne des Wortes zum double-bind wird.

In dem bereits zitierten Beispiel von dem Jungen, für den glücklich mit dankbar und unglücklich mit egoistisch und undankbar gleichgesetzt wurden, wäre der Konflikt und die Konfusion noch weitaus verstärkt worden, wenn Unehrlichkeit mit starken Verboten belegt worden wäre. Unter solchen Umständen hätte die Äußerung von Unglücklichsein bedeutet, schlecht, weil egoistisch und undankbar, zu sein, während der Ausdruck von Glücklichsein ebenfalls bedeutet hätte, schlecht zu sein, da das ja unehrlich gewesen wäre.

Im Falle des Jungen, der sich eine Beere in die Nase steckte, kann man sich gut vorstellen, dass seine Eltern hätten sagen können: »Aber wir haben dich gefragt, ob deine Nase in Ordnung ist, und du hast uns gesagt, sie sei in Ordnung und du hättest die ganze Sache erfunden.« Das verwandelt die Situation in eine, die zugleich als double-bind und als Mystifikation zu charakterisieren ist.

 

Fall-Darstellungen

Die folgenden Beispiele entstammen den Familien der drei weiblichen Schizophrenen Maya, Ruby und Ruth4.

 

 MAYA

Maya (28jährig) meint, sie habe damit begonnen, sich »sexuelle Dinge« vorzustellen, als sie mit etwa 14 Jahren nach einer sechsjährigen Trennung während des Zweiten Weltkriegs zu ihren Eltern zurückkehrte. Sie konnte in ihrem Schlafzimmer liegen und darüber nachdenken, ob ihre Eltern wohl Sexualverkehr hätten. Sie fing an, sexuell erregt zu werden, und etwa um diese Zeit begann sie zu onanieren. Sie war jedoch sehr schüchtern und mied die Jungen. Die körperliche Erscheinung ihres Vaters irritierte sie immer mehr. Sie protestierte dagegen, dass er sich in dem Raum rasierte, in dem sie frühstückte. Sie hatte große Angst, ihre Eltern wüssten etwas von den sexuellen Gedanken, die sie sich über sie machte. Sie versuchte, ihnen etwas davon zu erzählen, aber sie sagten ihr, sie habe gar keine Gedanken dieser Art. Sie erzählte ihnen, dass sie onaniere, und sie sagten ihr, sie onaniere gar nicht. Für das, was sich 1945 oder 1946 abspielte, haben wir natürlich nur Mayas Geschichte zur Verfügung. Als sie allerdings ihren Eltern in Gegenwart des Interviewers erklärte, sie onaniere noch immer, erwiderten diese einfach, das stimme nicht!

Mayas Mutter sagt nicht etwa: »Wie schlimm von dir, zu onanieren«, oder: »Ich kann kaum glauben, dass du so etwas tust«. Sie sagt ihrer Tochter auch nicht, sie solle nicht onanieren. Nein, sie sagt ihr einfach, sie täte das gar nicht.

Wiederholt versuchte die Mutter, Maya dazu zu bringen, verschiedene Episoden zu vergessen, an die sie (die Mutter) nicht erinnert werden wollte. Sie sagte jedoch nicht: »Ich möchte nicht, dass du das erwähnst, geschweige denn dich darauf besinnst.« Sondern: »Ich möchte, dass du dem Doktor hilfst, indem du dich erinnerst, aber natürlich kannst du dich nicht erinnern, denn du bist ja krank.«

Mrs. Abbott appellierte ständig an Mayas Erinnerungsvermögen im allgemeinen, um (vom Standpunkt der Mutter aus) ihr zu helfen, die Tatsache einzusehen, dass sie krank war, indem sie ihr zeigte, 1., dass ihr Gedächtnis schwach war oder 2., dass sie gewisse Tatbestände falsch aufgefasst hatte oder 3., dass sie sich einbildete, sich zu erinnern, weil ihre Mutter oder der Vater ihr später davon erzählt hatten.

Diese »falsche«, aber »eingebildete« Erinnerung wurde von Mrs. Abbott mit großer Sorge betrachtet. Sie war auch ein Punkt, an dem Maya höchst verwirrt war.

Mrs. Abbott erzählte uns schließlich (in Mayas Abwesenheit), sie bete darum, dass Maya sich niemals an ihre »Krankheit« erinnern werde, weil sie (die Mutter) meine, sie (die Tochter) werde dadurch aus der Fassung geraten. Tatsächlich glaubte sie so fest daran, dass sie sagte, sie halte das für das Annehmbarste, selbst wenn das bedeute, dass Maya im Hospital bleiben müsse!

Die Eltern widersprachen also nicht nur den Erinnerungen, Gefühlen, Wahrnehmungen, Motiven und Absichten von Maya, auch ihre eigenen Charakterisierungen widersprachen sieh in merkwürdiger Weise. Und während sie außerdem redeten und sich verhielten, als wüssten sie besser als ihre Tochter, woran sich diese erinnerte, was sie tat, was sie sich vorstellte, was sie wollte, was sie fühlte, ob sie sich freute oder müde war, übten sie diese Schiedsrichterfunktion (»one-upmanship«) oft in eine Weise aus, die die Mystifizierung verstärkte. So sagte Maya bei einer Gelegenheit, sie möchte das Hospital gern verlassen, glaube aber, dass ihre Mutter sie im Hospital zu halten versuche, obwohl gar keine Notwendigkeit mehr für sie bestehe, stationär behandelt zu werden. Ihre Mutter erwiderte: »Ich denke, Maya ist... Ich denke, Maya ist sich klar darüber, dass ich alles tun würde, wovon sie glaubt, dass es wirklich für sie gut ist... Nicht? ... Hmm? (keine Antwort) Ohne jeden Vorbehalt... Ich meine, falls irgendwelche Veränderungen zu treffen wären, würde ich sie gern vornehmen... Es sei denn, das wäre absolut unmöglich.« Nichts hätte von dem, was Maya in jenem Augenblick erkannte, entfernter sein können. Aber die Mystifizierung in dieser Erklärung liegt auf der Hand. Was Maya auch wollte, es wurde unabdingbar mit »wirklich« und »für sie gut« qualifiziert. Natürlich war Mrs. Abbott der Schiedsrichter, der darüber befand, 1. was Maya »wirklich« wollte im Gegensatz zu dem, wovon sie sich nur einbilde, es zu wollen, 2. was für sie gut war, 3. was möglich war.

Maya durchschaute solche Mystifikationen manchmal scharfsinnig, doch war das für sie weitaus schwieriger als für uns. Ihr Problem bestand ja gerade darin, dass sie sich nicht sagen konnte, wann sie ihrer eigenen Erinnerung, wann ihrer Mutter und ihrem Vater, wann ihrer eigenen Perspektive und Metaperspektive, wann den Angaben ihrer Eltern über deren Perspektiven und Metaperspektiven trauen durfte5.

Die eingehende Untersuchung dieser Familie ergab tatsächlich, dass man den Äußerungen ihrer Eltern ihr gegenüber über sie, über sich, über das, wovon sie meinten, Maya würde meinen, dass sie es meinen usw., und sogar über das, was faktisch geschehen war, nicht trauen konnte. Maya hatte diesen Verdacht, doch sagten ihr die Eltern, dass gerade darin ihre Krankheit bestehe. Sie zweifelte daher oft an der Berechtigung ihres eigenen Verdachts; und oft widersprach sie (in wahnhafter Weise) dem, was ihre Eltern sagten, oder erfand irgendeine Geschichte, an die sie sich vorübergehend klammerte. So behauptete sie einmal steif und fest, sie sei mit acht Jahren im Krankenhaus gewesen, als sie das erstemal von ihren Eltern getrennt war.

Dieses Mädchen war ein Einzelkind und wurde geboren, als die Mutter 24, der Vater 30 Jahre alt war. Vater und Mutter waren beide der Ansicht, dass sie große Vorliebe für ihren Vater zeigte. Im Alter von drei bis sechs Jahren weckte sie ihren Vater um halb 5 Uhr morgens auf, und sie gingen miteinander zum Schwimmen. Immer war sie Hand in Hand mit ihm. Am Tisch saßen sie eng beieinander, und er betete mit ihr, bevor sie einschlief. Bevor sie mit acht Jahren evakuiert wurde, machten sie häufig zusammen lange Spaziergänge. Dann lebte sie, von kurzen Besuchen zu Hause abgesehen, bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr von den Eltern getrennt.

Mrs. Abbott brachte in ihrem und durch ihren Bericht über Mayas frühe Intimität mit dem Vater nichts so klar zum Ausdruck wie ihre eigene Eifersucht. Sie schien sich so sehr mit Maya zu identifizieren, dass sie durch sie eine Neuauflage ihrer Beziehung zu dem eigenen Vater erlebte, die nach ihrer Auskunft durch einen raschen, unvorhersehbaren Wechsel zwischen Akzeptierung und Ablehnung und umgekehrt bestimmt war. Als Maya mit 14 ins Elternhaus zurückkehrte, war sie verändert. Sie wollte lernen. Sie hatte keine Lust mehr, mit ihrem Vater schwimmen zu gehen oder lange Spaziergänge zu machen. Sie hatte keine Lust mehr, mit ihm zu beten. Sie wollte die Bibel für sich allein lesen. Sie erhob Einspruch, wenn ihr Vater seine Zuneigung zeigte, indem er sich bei den Mahlzeiten an sie drückte. Sie wollte weiter weg von ihm sitzen. Auch wollte sie nicht mit ihrer Mutter ins Kino gehen. Sie wollte sich mit häuslichen Dingen befassen, aber sie wollte das allein tun. So putzte sie (wie ihre Mutter erzählte) einen Spiegel, ohne ihrer Mutter zu sagen, was sie vorhabe. Ihre Eltern beklagten sich uns gegenüber auch darüber, dass sie kein Verständnis für ihre Mutter oder ihren Vater aufbringen wollte und dass sie ihnen nichts über sich erzählen konnte.

Die Reaktion der Eltern auf diese Veränderung, die offensichtlich ein harter Schlag für sie war, war interessant. Sie spürten beide, dass Maya über außergewöhnliche Geisteskräfte verfügte, die so groß sein mussten, dass Mutter wie Vater überzeugt waren, sie könne ihre Gedanken lesen. Der Vater versuchte, dafür eine Bestätigung zu bekommen, indem er ein Medium konsultierte. Sie fingen an, sie in verschiedener Weise auf die Probe zu stellen.

 

VATER: »Wenn ich im Erdgeschoss war, und jemand kam rein und fragte, wie es Maya ginge, dann fragte mich Maya, wenn ich unmittelbar darauf nach oben ging: "Was hast du über mich gesagt?" Ich sagte: "Nichts." Sie sagte: "Oh doch, ich hab dich ja gehört." Nun war das so merkwürdig, dass ich was Maya nicht wusste, mit ihr experimentierte, nicht wahr, und dann, als ich es ausprobierte, dachte ich: "Nun, ich ziehe Mrs. Abbott ins Vertrauen", und sagte es ihr, und sie sagte: "Ach, sei nicht albern, das ist doch unmöglich", und ich sagte: "Nun gut, wenn wir Maya heute Abend im Wagen mitnehmen, werde ich mich neben sie setzen und mich auf sie konzentrieren. Ich werde etwas sagen, und du passt auf, was passiert." Als ich mich hinsetzte, sagte sie: "Würde es dir was ausmachen, dich auf die andere Seite zu setzen. Ich kann Vatis Gedanken nicht ergründen." Und das stimmte. Nun, etwas später, an einem Sonntag, sagte ich - es war Winter - ich sagte: "Nun wird Maya auf dem üblichen Stuhl sitzen, und sie wird ein Buch lesen. Jetzt nimm eine Zeitung in die Hand, und ich nehme auch eine Zeitung in die Hand, und dann gebe ich dir das Wort und" äh... Maya las eifrig die Zeitung und äh... ich nickte meiner Frau zu, dann konzentrierte ich mich auf Maya hinter der Zeitung. Sie nahm die Zeitung... ihr... hm... Magazin oder was immer es war und ging ins Vorderzimmer. Und ihre Mutter sagte: "Maya, wohin gehst du? Ich habe kein Feuer gemacht." Maya sagte: "Ich kann nicht verstehen... Nein, ich kann nicht in Vatis Kopf eindringen. Kann nicht in Vatis Kopf eindringen!"«

 

Derartige Mystifizierungen waren von ihrer ersten »Erkrankung« an bis in die Gegenwart im Gange und kamen erst ans Licht, als mehr als ein Jahr dieser Untersuchung verstrichen war.

Mayas Irritiertheit, Sprunghaftigkeit, Konfusion und ihre gelegentlichen Vorwürfe gegen die Eltern, sie würden sie auf irgendeine Weise »beeinflussen«, wurden natürlich jahrelang von Vater und Mutter in ihrer Gegenwart mit Lachen abgetan, aber im Laufe der vorliegenden Untersuchung erzählte der Vater Maya von diesen Praktiken.

 

TOCHTER: Nun, ich meine, du solltest das nicht tun, es ist nicht natürlich.
VATER: Ich tue es doch nicht... Ich tue es doch nicht... Ich dachte... »Nun, ich tue das Falsche, also tu ich es nicht.«
TOCHTER: Ich meine, die Art, in der ich reagiere, würde dir zeigen, dass es falsch ist.
VATER: Und vor ein paar Wochen gab es einen beispielhaften Fall, ihr gefiel ein Rock von ihrer Mutter.
TOCHTER: Das stimmt nicht. Ich hab ihn anprobiert, und er passte.
VATER: Nun, und sie mussten zu einer Schneiderin gehen... Die Schneiderin war von jemandem empfohlen worden, Mrs. Abbott suchte sie auf, und sie sagte: "Was kostet das?" Die Frau sagte: "Vier Shilling." Mrs. Abbott sagte: "Oh, nein, es muss Sie mehr gekostet haben als das" da sagte sie: "Naja, Ihr Mann hat mir vor ein paar Jahren einen guten Dienst erwiesen, und ich hab mich nie dafür revanchiert." Ich weiß nicht, was das war. Mrs. Abbott gab ihr natürlich mehr. Als Maya dann nach Hause kam, fragte sie: "Hast du den Rock geholt, Mami?" Sie sagte: "Ja, und er hat auch einen Haufen Geld gekostet, Maya." Maya sagte: "Ach, du kannst mich nicht reinlegen, sie sagen mir, es waren vier Shilling."
TOCHTER: Nein, ich dachte es waren sieben.
VATER: Nein: du sagtest, es waren vier, genau, und meine Frau sah mich an, und ich sah sie an... Also, wenn du das erklären kannst, ich kann's nicht.

 

Eine weitere von Mayas »Beziehungsideen« war, dass zwischen ihren Eltern etwas vor sich ging, das sie nicht ergründen konnte und von dem sie annahm, dass es sie betraf, aber sie war sich nicht sicher.

Und sie hatte recht. Wenn Vater, Mutter und Maya zusammen interviewt wurden, tauschten die Eltern ständig ein Lächeln, ein Zwinkern, Nicken und Gesten aus, wie sie unter »Eingeweihten« üblich sind und die für den Beobachter so »augenfällig« waren, dass er sie nach zwanzig Minuten des ersten Dreier-Interviews zur Sprache brachte. Von Maya aus gesehen bestand die Mystifizierung darin, dass ihre Eltern weder diese Bemerkung des Interviewers gelten ließen, noch jemals, soweit wir das wissen, die Richtigkeit ähnlicher Wahrnehmungen und Bemerkungen durch Maya anerkannt hatten. Die Folge war, wie uns schien, dass sie nicht wusste, wann sie etwas, das vor sich ging, wahrnahm und wann sie es sich bloß einbildete. Der offene, zugleich jedoch geheimnisvolle, nichtverbale Austausch zwischen Vater und Mutter war tatsächlich ganz offenkundig und völlig unübersehbar. Mayas »paranoide« Zweifel an dem, was vor sich ging, erschienen deshalb zum Teil als Ausdruck ihres Mangels an Vertrauen in die Rechtmäßigkeit ihres Verdachts; Sie konnte nicht »wirklich« glauben, dass das, wovon sie annahm, es vor sich gehen zu sehen, vor sich ging. Eine weitere Folge war für Maya, dass sie nicht unterscheiden konnte zwischen dem, was (für die Untersucher) der Intention nach keine kommunikativen Handlungen zwischen Menschen im allgemeinen waren (das Abnehmen der Brille, Wimpernzucken, Nasereiben, Stirnrunzeln und so weiter), und dem, was tatsächlich Signale zwischen Vater und Mutter waren. Das Merkwürdige war, dass einige dieser Signale teilweise als »Test« dienten, um zu ermitteln, ob Maya sie aufschnappen würde. Ein wesentlicher Teil des Spiels, das die Eltern spielten, bestand jedoch darin, auf entsprechende Bemerkungen zu erwidern: »Was meinst du damit, was für ein Zwinkern?« und so weiter.

 

RUBY

Als Ruby (im Alter von 18) ins Hospital eingewiesen wurde, war sie völlig stumm und befand sich in einem unzugänglichen katatonischen Stupor. Zunächst weigerte sie sich zu essen, doch ließ sie sich mit der Zeit dazu überreden. Nach ein paar Tagen begann sie zu sprechen. Sie führte dunkle, unzusammenhängende Reden und widersprach sich oft selbst. So sagte sie zum Beispiel, ihre Mutter liebe sie, und im nächsten Augenblick, ihre Mutter wolle sie vergiften.

Unter dem Gesichtspunkt der klinischen Psychiatrie lag eine Inkongruenz von Denken und Affekt vor; zum Beispiel lachte sie, als sie von ihrer nicht weit zurückliegenden Schwangerschaft und Fehlgeburt sprach. Sie klagte über Hämmern im Kopf und über Stimmen außerhalb des Kopfes, die sie als »Schlampe«, »dreckig« und »Prostituierte« beschimpften. Sie nahm an, »die Leute« würden schlecht von ihr reden. Sie sagte, sie sei die Jungfrau Maria und die Frau von Elvis Presley. Sie nahm an, ihre Familie lehne sie ab und wolle sie loswerden; sie hatte Angst, man habe sie ins Hospital abgeschoben. »Die Leute« mochten sie nicht. Sie fürchtete sich von Menschenmengen und »Leuten«. Wenn sie in eine Menschenansammlung geriet, hatte sie das Gefühl, der Boden würde sich unter ihren Füßen auftun. Nachts lagen »Leute« über ihr und hatten Geschlechtsverkehr mit ihr; nach ihrer Einweisung ins Hospital brachte sie eine Ratte zur Welt; sie glaubte, sich im Fernsehen zu erblicken.

Es war klar, der Sinn dieses Mädchens für die »Realität«, für das, was tatsächlich existierte und was nicht existierte, war aus den Fugen geraten.

Die Frage ist: War das, was man gemeinhin »Realitätssinn« nennt, bei diesem Mädchen von anderen Menschen zerstört worden?

Ist die Art des Verhaltens dieses Mädchens und sind die Dinge, die sie sagt, der begreifliche Ausfluss eines pathologischen Prozesses?

Besonders konfus war dieses Mädchen in Bezug auf die Frage, wer sie sei - sie schwankte zwischen der Jungfrau Maria und der Frau von Elvis Presley -, und sie wusste nicht, ob ihre Familie und »die Leute« im allgemeinen sie liebten oder nicht und in welchem Sinne - ob diese sie mochten als diejenige, die sie war, oder ob diese sie sexuell begehrten und zugleich verachteten.

Welcher soziale Hintergrund verbirgt sich hinter diesen Bereichen der Konfusion?

Damit dem Leser die anfängliche Konfusion der Untersucher, ganz zu schweigen von der des Mädchens, erspart bleibt, wollen wir ihren Familien-Nexus in einer Tabelle darstellen.

BIOLOGISCHER STATUS ANREDEN, DIE RUBY BEIGE-
BRACHT WURDEN
Vater
Mutter
Tante (Schwester der Mutter)  
Onkel (deren Ehemann)
Cousin
Onkel
Mami
Mutter
Daddy, später Onkel
Bruder

Kurz, Ruby war ein uneheliches Kind, das von ihrer Mutter, der Schwester ihrer Mutter und dem Mann dieser Schwester großgezogen worden war.

Wir werden im Folgenden auf ihre leiblichen Verwandten Bezug nehmen, ohne sie in Anführungszeichen zu setzen, und die Anreden, die Ruby für sie gebrauchte und/oder die sie für sich selbst benutzten, in Anführungszeichen setzen.

Ihre Mutter und sie lebten bei der verheirateten Schwester ihrer Mutter, deren Mann (»Daddy« und »Onkel«) und Sohn (ihrem Cousin). Ihr Vater, der verheiratet war und anderswo eine Familie hatte, kam gelegentlich zu Besuch. Sie sprach von ihm als ihrem »Onkel«.

Ihre Familie widersprach uns in einem Erstinterview heftig, als wir meinten, Ruby sei in dem Wissen groß geworden, »wer sie sei«. Ihre Mutter (»Mami«) und ihre Tante (»Mutter«) waren nicht davon abzubringen, dass sie nicht die leiseste Ahnung davon habe, wie die Dinge sich wirklich verhielten, aber ihr Cousin (»Bruder«) betonte, sie müsse schon seit Jahren davon gewusst haben. Sie (Mutter, Tante und Onkel) argumentierten auch, dass niemand in dem Bezirk davon wisse, doch gaben sie schließlich zu, dass jedem bekannt sei, dass sie ein uneheliches Kind sei, aber niemand würde ihr das vorhalten. Die höchst komplizierten Spaltungen und Verleugnungen in der Wahrnehmung des Mädchens von sich selbst und den anderen wurden zugleich von ihr erwartet und von den anderen praktiziert.

Sechs Monate vor ihrer Einweisung ins Hospital wurde sie schwanger (und hatte im vierten Monat eine Fehlgeburt). Wie so viele von unseren Familien hatte auch diese Angst vor Klatsch und Skandalgeschichten, vor dem, was »die Leute« sagen oder denken usw. Als Ruby schwanger war, verstärkte sich das noch. Ruby dachte, »die Leute« würden über sie reden (was sie tatsächlich taten), und ihre Familie wusste, dass sie das taten, versuchte aber, als Ruby davon sprach, sie zu beruhigen, indem sie sagte, sie solle nicht albern sein, solle sich nicht Sachen einbilden, und natürlich würde niemand über sie reden.

Das war nur eine von den vielen Mystifikationen, denen das Mädchen unterworfen war. Im Folgenden ein paar von den übrigen.

  1. In ihrem zerrütteten, »paranoiden« Zustand sagte sie, Mutter, Tante, Onkel und Cousin könnten sie nicht leiden, hackten auf ihr herum, hänselten und verachteten sie. Als sie sich »besserte«, schämte sie sich sehr, solch schreckliche Dinge gedacht zu haben, und sagte, ihre Familie sei »wirklich gut« zu ihr gewesen und sie habe eine »liebenswerte Familie«. Tatsächlich gab ihr die Familie allen Anlass, Schuldgefühle zu haben wegen dieser Art, sie zu sehen, indem sie sich erschreckt und entsetzt darüber zeigte, dass das Mädchen meinen könnte, man würde es nicht lieben. In Wirklichkeit erzählten sie uns, sie sei eine Schlampe und kaum besser als eine Dirne - und sie sagten uns das mit Heftigkeit und hitzig. Sie versuchten, das Mädchen dazu zu bringen, sich wegen der Wahrnehmung der wirklichen Gefühle ihnen gegenüber schlecht oder verrückt zu fühlen.

  2. Sie hatte den mit Schuldgefühlen verbundenen Verdacht, dass ihre Familie sie nicht aus dem Hospital nach Hause nehmen wollte, und beschuldigte sie in plötzlichen Ausbrüchen, sie loswerden zu wollen. Die Familienmitglieder fragten sie, wie sie so etwas von ihnen denken könne, aber tatsächlich waren sie außerordentlich abgeneigt, sie zu Hause zu haben. Sie versuchten, sie glauben zu machen, man würde sie gern nach Hause holen, und versuchten ihr das Gefühl zu geben, sie sei schlecht oder verrückt, sobald sie erkannte, dass man sie nicht zu Hause haben wollte, wenn dies tatsächlich so war.

  3. Äußerst konfuse Einstellungen kamen ins Spiel, als sie schwanger wurde. Nachdem Ruby ihnen davon erzählt hatte, legten »Mami« und »Mutter« sie, sobald sie konnten, auf den Diwan im Wohnzimmer, und während sie versuchten, ihr heißes Seifenwasser in den Uterus zu pumpen, erzählten sie ihr unter Tränen, Vorwürfen und Bekundungen von Mitgefühl, Mitleid und Groll, was für eine Närrin, was für eine Schlampe und in was für einer schrecklichen Lage sie sei (genau wie ihre »Mami«), was für ein Bastard der Junge sei (»genau wie ihr Vater!«) - welche Schande, die Geschichte wiederholt sich, wie konnte man auch etwas anderes erwarten... Das war das erstemal, dass sie ausdrücklich damit bekannt gemacht wurde, wessen Kind sie in Wahrheit war.

  4. In der Folgezeit begann sich bei Ruby das Gefühl, die Leute würden über sie reden, zu verfestigen. Wie schon erwähnt, sagte man ihr, das sei doch Unsinn, und ihre Familie erzählte uns, jeder habe ihre »Hoffnung« »sehr freundlich« aufgenommen. Ihr Cousin war am ehrlichsten, »Ja«, sagte er, »die meisten sind freundlich zu ihr, ganz so, als wäre sie eine Farbige.«

  5. Die ganze Familie hatte das beklemmende Gefühl von Schmach und Schande. Immer wieder bekam Ruby das von ihren Angehörigen vorgehalten, aber wenn sie selbst die Befürchtung äußerte, die Leute würden über sie reden, dann sagte man ihr, sie solle sich nicht solche Sachen einbilden.

  6. Ihre Angehörigen beschuldigten sie, verdorben und verwöhnt zu sein, aber sobald sie sich nicht von ihnen verwöhnen lassen wollte, hieß es, a) sie sei undankbar, b) sie brauche sie doch, schließlich sei sie ja noch ein Kind, usw. (als wäre verwöhnt werden etwas, was sie tat).

Der Onkel wurde von Mutter und Tante den Untersuchern als ein sehr guter Onkel geschildert, der Ruby liebe und wie ein Vater zu ihr sei. Sie waren fest davon überzeugt, dass er bereit sei, alles zu tun, was er konnte, um ihnen zu helfen, Rubys Problem zu erhellen. Trotzdem war es ihm nie möglich, zu einem vorher vereinbarten Interview zu kommen. Sechsmal trafen wir eine für beide Seiten günstige Verabredung in der Zeit der Untersuchung, und jedes mal hielt er sie nicht ein, wobei er uns entweder überhaupt nicht benachrichtigte oder erst in den letzten vierundzwanzig Stunden absagte. Schließlich suchten die Untersucher ihn auf, ohne sich vorher anzumelden.

Wie die Untersucher von Onkel, Mutter und Tante erfuhren, wurde diesem Mädchen wiederholt von seinem Onkel gesagt, wenn es sich nicht »bessere«, müsse es das Haus verlassen. Wie wir wissen, sagte er ihr bei zwei Gelegenheiten tatsächlich, sie solle gehen, und sie ging. Aber als sie ihm sagte, er habe sie aufgefordert, das Haus zu verlassen, bestritt er es ihr gegenüber (während er es uns gegenüber zugab)!

Dieser Onkel erzählte uns bebend, sie habe an ihm herumgefummelt, mit ihren Händen über seine Hose gestreichelt, und das habe ihn ganz krank gemacht. Seine Frau sagte ziemlich kühl, sie habe aber nicht den Eindruck gehabt, dass es ihn damals krank gemacht hätte.

Als wir später Ruby fragten, hatte sie offensichtlich bewusst keine Ahnung davon, dass ihr Onkel etwas dagegen hatte, abgeknutscht und getätschelt zu werden. Sie dachte, er habe das gern, und hatte es ihm zum Gefallen getan.

Nicht nur in einem Bereich, sondern auf jede erdenkliche Weise - hinsichtlich ihrer Kleidung, ihrer Sprache, ihrer Arbeit, ihrer Freunde - war dieses Mädchen Mystifikationen unterworfen, die alle Fugen ihres Seins durchdrangen.

Die Familienangehörigen der soweit untersuchten schizophrenen Patienten benutzten die Mystifizierung häufig als das bevorzugte Mittel zur Kontrolle des Erlebens und Handelns dieser Patientin.

Bis jetzt haben wir noch keinen Prä-Schizophrenen erlebt, der vor dem offenen Ausbruch seiner Psychose nicht in einem hochgradig mystifizierten Zustand gewesen wäre.

Dieser mystifizierte Zustand wird von den aktiv mystifizierenden anderen Familienmitgliedern natürlich nicht als solcher erkannt, während er häufig von einem relativ unbeteiligten Mitglied aus dem Kreise der Familie (einem »normalen« Bruder oder einer »normalen« Schwester, einem Onkel oder einer Tante, einem Freund) aufgedeckt wird. Der psychotische Schub kann manchmal als erfolgloser Versuch betrachtet werden, den Zustand der Mystifikation zu erkennen, in dem der Betreffende sich befindet. Doch widersetzen sich die aktiven Mystifikateure in der Familie jedem derartigen Versuch heftig durch alle erdenklichen Mystifizierungen.

 

RUTH

Das folgende Beispiel einer Mystifizierung impliziert wiederum die Vermengung von Praxis und Prozess.

Worin für die Untersucher das reale Selbst des Mädchens zum Ausdruck kommt, was auch immer die Eltern für eine Vorstellung von diesem Selbst haben mögen, betrachten die Eltern als bloßen Prozess; das heißt, sie schreiben einem solchen Verhalten kein Motiv, keine Wirksamkeit, Verantwortlichkeit oder Absicht zu. Das Verhalten, das den Untersuchern als unecht und Ausdruck von Gehorsam erschien, betrachteten die Eltern als gesund, normal und als ihr wahres und reales Selbst. Diese paradoxe Situation wiederholt sich ständig in unserem Material.

Ruth trug von Zeit zu Zeit farbige Wollstrümpfe und kleidete sich allgemein auf eine Weise, die in bestimmten Gruppen von Londonern ganz üblich, in den Kreisen ihrer Eltern aber ungewöhnlich ist. Ihre Eltern erblickten darin ein »Symptom« ihrer Krankheit. Für ihre Mutter war die Handlungsweise von Ruth, solche Strümpfe anzuziehen, das erste Anzeichen eines herannahenden weiteren »Anfalls«. Das heißt, die Mutter (und der Vater) verkehrte ihr Handeln (Praxis) in ein Zeichen für einen pathologischen Prozess. Dasselbe Handeln ist für die Untersucher Ausdruck eines Selbst, das sich von der starr vertretenen Auffassung der Eltern von dem, wer Ruth ist und was sie sein sollte, unterscheidet.

Diese Akte der Selbstbehauptung waren bei Ruth ebenso wie bei ihren Eltern von ungeheurer Heftigkeit begleitet. Die Folge war eine drohende Periode gestörten Erlebens und Verhaltens, das klinisch als »psychotischer Schub« diagnostizierbar ist. Am Ende steht eine Versöhnung auf der Grundlage, dass Ruth krank gewesen ist. Im Zustand des Krankseins fühlte sie, tat sie, sagte sie Dinge, die sie nicht wirklich so meinte und für die sie nichts konnte, weil sie ja »krank« war. Nachdem es ihr wieder besser geht, sieht sie das selber ein.

Als Ruth zum erstenmal farbige Strümpfe anzog, ging es den Eltern um folgende Fragen: Was bringt sie dazu, uns solche Schande zu bereiten? Sie ist doch ein braves Mädchen. Immer ist sie so sensibel und dankbar. Sie ist gewöhnlich nicht dickfellig und rücksichtslos. Wenn sie solche Strümpfe usw. tragen will, weiß sie, dass sie ihren Vater damit aufregt, und sie weiß doch, dass er ein schwaches Herz hat. Wie kann sie ihn nur so aufregen, wenn sie ihn wirklich lieb hat?

Die Schwierigkeit der Analyse dieses Mädchens in ihren nicht psychotischen Perioden liegt, wie nicht selten bei Schizophrenen in ihrer »Schweigephase«, darin, dass sie völlig für die Ansicht ihrer Eltern, sie habe periodisch »Anfälle« ihrer »Krankheit«, Partei ergreift. Nur wenn sie »krank« ist, verwahrt sie sich gegen die »Orientierungsachse« ihrer Eltern (und auch dann nur mit einem Teil ihres Selbst).

Die Logik, die dieser Mystifikation innewohnt, lässt sich vielleicht wie folgt nachzeichnen.

X ist gut. Alles, was nicht X ist, ist schlecht. Ruth ist X. Wäre Ruth Y, dann wäre sie schlecht. Aber es scheint so, als wäre Ruth Y. Also muss Y gleichbedeutend sein mit X, was soviel heißt wie: Ruth ist nicht wirklich Nicht-X, sondern tatsächlich X. Ferner: sofern Ruth versucht, Y zu sein, oder sogar Y ist, ist sie schlecht. Aber Ruth ist X, das heißt, sie ist gut, so kann Ruth nicht schlecht sein, also muss sie verrückt sein.

Ruth möchte farbige Wollstrümpfe anziehen und mit Jungen ausgehen, aber sie will nicht schlecht sein oder verrückt. Die Mystifizierung besteht hier darin, dass sie, wenn sie nicht schlecht oder verrückt ist, nur eine schlampige alte Jungfer werden kann die bei ihren betagten Eltern wohnt. Sie wird von den »Stimmen« ihres eigenen ungelebten Lebens verfolgt, wenn sie gut, und von den »Stimmen« ihrer Eltern, wenn sie schlecht ist. So oder so muss sie verrückt werden. Ihr Zustand ist also das, was ich eine Position der Verteidigungsunfähigkeit untenable position) genannt habe (Laing, 1961, S. 135). Die Aufgabe des Therapeuten ist es, einem solchen Menschen dazu zu verhelfen, entmystifiziert zu werden. Die erste Phase der Therapie besteht in einem solchen Fall großenteils in dem Bemühen um Entmystifizierung, um die Entwirrung des Knotens, mit dem sie oder er gefesselt ist, oder auch in der Aufwerfung von Streitfragen, die nie gestellt wurden und an die man nicht einmal dachte, außer wenn der Betreffende »krank« war: Ist es schlecht oder eine Schande, ist es egoistisch, rücksichtslos, undankbar usw., Nicht-X zu sein oder zu tun, und ist es unbedingt gut, X zu sein?

Aber die Praxis der Therapie steht auf einem anderen Blatt.

 

Anmerkungen

  1. Forscher: R. D. Laing (Leiter des Forschungsprogramms), Dr. A. Russell Lee (1959-1961), Dr. Peter Lomas, Miss Marion Bosanquet, P. S. W. - Dr. Laing ist ordentliches Mitglied des Foundation's Fund for Research in Psychiatry. Die Teilnahme von Dr. A. Russell Lee wurde durch das National Institute of Mental Health, Bethesda, Maryland, ermöglicht.
  2. Eine Stellungnahme zu dieser Theorie findet sich bei Laing und Cooper (1964).
  3. Bei den meisten Arten von Psychotherapie unterstellt der Therapeut dem Patienten Motive und Absichten, die nicht in Einklang sind mit jenen, die der Patient seinen eigenen Handlungen beimisst. Der Therapeut (so ist jedenfalls zu hoffen) mystifiziert jedoch den Patienten nicht, wenn er ihm, ob ausdrücklich oder nicht, erklärt: Sie sehen sich selbst als durch A motiviert und streben B an. Für mich heißt Ihr Motiv jedoch X und Ihr Ziel Y, und hier ist mein Beweis, den ich aus meiner persönlichen Begegnung mit ihnen gewonnen habe.
  4. Ausführliche phänomenologische Darstellungen dieser und anderer Familien finden sich bei Laing und Esterson (1964).
  5. Perspektive bezeichnet den Standpunkt von P in einer Situation, Metaperspektive P's Standpunkt gegenüber A's Standpunkt (s. Laing, 1961).

Bibliographie

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    - (1961), The self and other, London, Chicago 1962.
    - (1962), »Series and nexus in the Family«, in New Left Revue, 15, Mai/Juni.
    - und R. D. Cooper (1964), Reason and violence. A decade of Sartre's philosophy - 1950-1960, London, New York.
    - und A. Esterson (1964), Sanity, madness and the family, Bd. I, Families of schizophrenics, London, New York.
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