Paul Watzlawick

Wie wirklich ist
die Wirklichkeit

Der vielarmige Bandit


Der Leser weiß vermutlich, was ein einarmiger Bandit ist: ein Spielautomat, in dem drei oder vier Scheiben durch das Herunterziehen eines Hebels (des »Arms«) in rasche Drehung versetzt werden. Wenn zwei oder mehrere Scheiben schließlich in derselben Stellung stehen bleiben, gewinnt der Spieler; wenn (wie es viel wahrscheinlicher ist) sie dies nicht tun, schluckt die Maschine die Münze, durch deren Einwurf der Spieler den Arm entriegelte. Man versucht also sein Glück gegen das kapriziöse, unbestimmbare »Verhalten« des Spielautomaten, und nicht selten entwickelt man dabei kleine, abergläubische Ideen über das Innenleben des einarmigen Banditen. (Es handelt sich dabei um ungefähr ebenso harmlose Schrullen, wie es die komischen Verrenkungen des Keglers nach Loslassen der Kugel sind; Verrenkungen, die anscheinend den Zweck haben, den Lauf der Kugel auf die Kegel hinzusteuern.)

 

Der vielarmige Bandit - Abbildung

 

Eine etwas ähnliche, aber kompliziertere Maschine wurde von Wright an der Stanford-Universität gebaut und »vielarmiger Bandit« genannt. Sie hat allerdings keine Arme, sondern sechzehn identische und unbezeichnete Klingelknöpfe, die kreisförmig auf einem Schaltbrett angeordnet sind. Im Mittelpunkt des Kreises ist ein siebzehnter Druckknopf und über den Knöpfen ein dreistelliges Zählwerk angebracht (siehe Abbildung).
Die Versuchsperson nimmt vor dem Schaltbrett Platz und erhält folgende Anweisung:


»Ihre Aufgabe ist es, diese Knöpfe so zu drücken, daß Sie eine Höchstzahl von Punkten hier im Zählwerk erzielen. Sie wissen jetzt natürlich noch nicht, wie Sie das erreichen können, und Sie müssen sich zunächst also auf blindes Ausprobieren verlassen. Langsam aber wird sich Ihre Leistung verbessern. Wenn Sie den richtigen Knopf oder einen aus einer Reihe von richtigen Knöpfen drücken, werden Sie einen Summerton hören, und das Zählwerk wird einen Punkt mehr anzeigen. Sie werden pro Tastendruck nie mehr als einen Punkt gewinnen und keine bereits gewonnenen Punkte wieder verlieren.
Beginnen Sie, indem Sie einen Knopf des Kreises einmal drücken. Drücken Sie dann den Kontrollknopf in der Mitte, um herauszufinden, ob Sie damit einen Punkt gewonnen haben. Wenn das der Fall ist, werden Sie beim Drücken der Kontrolltaste den Summer hören. Drücken Sie dann wieder einen Knopf am Kreis (entweder einen anderen oder denselben) und prüfen Sie Ihre Leistung dann wiederum durch das Drücken des Kontrollknopfs. Nach jedem Drücken eines Knopfs am Kreis müssen Sie also den Kontrollknopf drücken.«1

 

Was die Versuchsperson nicht weiß, ist, daß die »Belohnung« (der Summerton, der ihr mitteilt, daß sie den »richtigen« Knopf gedrückt hat) nichtkontingent ist; das heißt, es besteht kein Zusammenhang zwischen den von ihr gedrückten Tasten und dem Ertönen des Summers.
Das Experiment besteht aus einer ununterbrochenen Reihe von 325 Versuchen (Knopfdrücken), die in 13 Gruppen von je 25 Versuchen eingeteilt sind. Im Verlauf der ersten zehn Gruppen (den ersten 250 Versuchen) erhält die Versuchsperson eine gewisse Anzahl von Bestätigungen (Summertönen), die aber wahllos gegeben werden, so daß sie der Versuchsperson nur höchst ungefähre Annahmen über die (nichtbestehenden) Regeln gestattet, die sie entdecken zu müssen glaubt. Im Verlauf von Gruppe elf und zwölf (das heißt während der nächsten 50 Versuche) erhält die Versuchsperson keinen einzigen Summerton; in der letzten Gruppe (den letzten 25 Versuchen) ertönt der Summer nach jedem Tastendruck.
Man versetze sich nun in die durch das Experiment herbeigeführte Lage: Nach dem erfolglosen Drücken einiger Knöpfe ertönt der Summer zum ersten Mal. Da es aber eine weitere Bedingung des Experiments ist, daß man keine Notizen machen darf, muß man nun das eben richtig Gemachte irgendwie zu wiederholen versuchen. Diese Versuche schlagen aber hartnäckig fehl, bis der Summer auf einmal wieder ertönt. Die Situation scheint vorläufig weder Hand noch Fuß zu haben. Langsam aber bilden sich einige scheinbar verläßliche Annahmen heraus. Gerade dann aber geht irgend etwas schief (Versuchsgruppen 11 und 12), das alles bisher Erarbeitete in Frage stellt, denn auch nicht ein einziger Versuch erweist sich als richtig. Alles scheint umsonst, doch glücklicherweise macht man nun die entscheidende Entdeckung, und von diesem Augenblick an (Gruppe 13) ist der Erfolg hundertprozentig: man hat die Lösung gefunden.
An diesem Punkte angelangt, wird den Versuchspersonen die Wahrheit über die Versuchsanordnung mitgeteilt. Ihr Vertrauen in die Richtigkeit der eben erst mühsamst erarbeiteten Lösung ist aber so unerschütterlich, daß sie die Wahrheit zunächst nicht glauben können. Einige nehmen sogar an, daß der Versuchsleiter derjenige ist, der einer Täuschung zum Opfer fiel, oder daß sie eine bisher unentdeckte Regelmäßigkeit in der angeblichen Regellosigkeit des sogenannten Randomisators im Apparat (des Zufallsmechanismus, der bei Drücken des Kontrollknopfs den Summer entweder ertönen läßt oder nicht) gefunden haben. Anderen muß die Rückseite des vielarmigen Banditen gezeigt und damit bewiesen werden, daß die sechzehn Schaltknöpfe an nichts angeschlossen sind, bevor sie sich von der Nichtkontingenz des Experiments überzeugen.2
Das Elegante an diesem Versuch ist, daß er das Wesen eines universalen menschlichen Problems klar herausstreicht: Wenn wir nach langem Suchen und peinlicher Ungewißheit uns endlich einen bestimmten Sachverhalt erklären zu können glauben, kann unser darin investierter emotionaler Einsatz so groß sein, daß wir es vorziehen, unleugbare Tatsachen, die unserer Erklärung widersprechen, für unwahr oder unwirklich zu erklären, statt unsere Erklärung diesen Tatsachen anzupassen. Daß derartige Retuschen der Wirklichkeit bedenkliche Folgen für unsere Wirklichkeitsanpassung haben können, versteht sich von selbst.
Was die Hartnäckigkeit und Komplexität dieser Pseudolösungen betrifft, konnte Wright nachweisen, daß die absurdesten Erklärungen von jenen Versuchspersonen zusammengebastelt wurden, deren Tastendrücke während der Versuchsgruppen eins bis zehn zur Hälfte für richtig erklärt wurden. Versuchspersonen, deren Versuche öfter als 50 % mit dem Summerton »belohnt« wurden, entwickelten verhältnismäßig einfache Erklärungen; andere, deren Versuche mit weit unter 50 % liegender Häufigkeit für richtig erklärt wurden, fanden das Problem häufig unlösbar und gaben auf. Auch die Parallele zwischen diesem Aspekt des Experiments und wirklichen Lebenssituationen ist offensichtlich - und beunruhigend.

 

Anmerkungen

  1. Sowohl diese Anweisungen als auch die Beschreibung des Versuchs sind hier in stark gekürzter Form wiedergegeben aus:
    Wright, John C.:Problem Solving and Search Behaviour under Noncontingent Rewards. Unveröffentlichte Dissertation, Stanford Universität, 1960.
    Wright, John C.: »Consistency and Compexity of Response Sequences as a Function of Schedules of Noncontingent Reward« Journal of Experimental Psychology 63 : 601-9, 1962.
  2. Der Anthropologe Gregory Bateson fragte sich einmal, welche Schlußfolgerungen ein sogenannter Schizophrener in dieser Lage ziehen würde, und hielt folgende Vermutung für die wahrscheinlichste: »Diese Knöpfe haben überhaupt keine Bedeutung - da sitzt jemand im andern Zimmer und läutet den Summer, wann immer es ihm einfällt.«