ZARATHUSTRAS VORREDE1
Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und
wurde dessen zehn Jahr nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, - und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr
also:
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Zarathustra stieg allein das Gebirge abwärts und Niemand begegnete ihm. Als er aber in die Wälder kam, stand auf einmal ein Greis vor ihm, der seine heilige Hütte
verlassen hatte, um Wurzeln im Walde zu suchen. Und also sprach der Greis zu Zarathustra:
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Als Zarathustra in die Nächste Stadt kam, die an den Wäldern liegt, fand er daselbst viel Volk versammelt auf dem Markte: denn es war verheissen worden, das man einen
Seiltänzer sehen solle. Und Zarathustra sprach also zum Volke:
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Zarathustra aber sahe das Volk an und wunderte sich. Dann sprach er also:
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Als Zarathustra diese Worte gesprochen hatte, sahe er wieder das Volk an und schwieg. "Da stehen sie", sprach er zu seinem Herzen, "da lachen sie: sie verstehen mich
nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren.
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Da aber geschah Etwas, das jeden Mund stumm und jedes Auge starr machte. Inzwischen nämlich hatte der Seiltänzer sein Werk begonnen: er war aus einer kleiner Thür
hinausgetreten und gieng über das Seil, welches zwischen zwei Thürmen gespannt war, also, dass es über dem Markte und dem Volke hieng. Als er eben in der Mitte seines
Weges war, öffnete sich die kleine Thür noch einmal, und ein bunter Gesell, einem Possenreisser gleich, sprang heraus und gieng mit schnellen Schritten dem Ersten nach.
"Vorwärts, Lahmfuss, rief seine fürchterliche Stimme, vorwärts Faulthier, Schleichhändler, Bleichgesicht! Dass ich dich nicht mit meiner Ferse kitzle! Was treibst du hier
zwischen Thürmen? In den Thurm gehörst du, einsperren sollte man dich, einem Bessern, als du bist, sperrst du die freie Bahn!" - Und mit jedem Worte kam er ihm näher und
näher: als er aber nur noch einen Schritt hinter ihm war, da geschah das Erschreckliche, das jeden Mund stumm und jedes Auge starr machte: - er stiess ein Geschrei aus wie
ein Teufel und sprang über Den hinweg, der ihm im Wege war. Dieser aber, als er so seinen Nebenbuhler siegen sah, verlor dabei den Kopf und das Seil; er warf seine Stange
weg und schoss schneller als diese, wie ein Wirbel von Armen und Beinen, in die Tiefe. Der Markt und das Volk glich dem Meere, wenn der Sturm hineinfährt: Alles floh aus
einander und übereinander, und am meisten dort, wo der Körper niederschlagen musste.
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Inzwischen kam der Abend, und der Markt barg sich in Dunkelheit: da verlief sich das Volk, denn selbst Neugierde und Schrekken werde müde. Zarathustra aber sass neben dem
Todten auf der Erde und war in Gedanken versunken: so vergass er die Zeit. Endlich aber wurde es Nacht, und ein kalter Wind blies über den Einsamen. Da erhob sich
Zarathustra und sagte zu seinem Herzen:
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Als Zarathustra diess zu seinem Herzen gesagt hatte, lud er den Leichnam auf seinem Rücken und machte sich auf den Weg. Und noch nicht war er hundert Schritte gegangen, da
schlich ein Mensch an ihn heran und flüsterte ihm in's Ohr - und siehe! Der, welcher redete, war der Possenreisser vom Thurme. "Geh weg von dieser Stadt, oh Zarathustra,
sprach er; es hassen dich hier zu Viele. Es hassen dich die Guten und Gerechten und sie nennen dich ihren Feind und Verächter; es hassen dich die Gläubigen des rechten
Glaubens, und sie nennen dich die Gefahr der Menge. Dein Glück war es, dass man über dich lachte: und wahrlich, du redetest gleich einem Possenreisser. Dein Glück war es,
dass du dich dem todten Hunde geselltest; als du dich so erniedrigtest, hast du dich selber für heute errettet. Geh aber fort aus dieser Stadt - oder morgen springe ich
über dich hinweg, ein Lebendiger über einen Todten." Und als er diess gesagt hatte, verschwand der Mensch; Zarathustra aber gieng weiter durch die dunklen Gassen.
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Lange schlief Zarathustra, und nicht nur die Morgenröthe gieng über sein Antlitz, sondern auch der Vormittag. Endlich aber that sein Auge sich auf: verwundert sah
Zarathustra in den Wald und die Stille, verwundert sah er in sich hinein. Dann erhob er sich schnell, wie ein Seefahrer, der mit Einem Male Land sieht, und jauchzte: denn
er sah eine neue Wahrheit. Und also redete er dann zu seinem Herzen:
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Diess hatte Zarathustra zu seinem Herzen gesprochen, als die Sonne im Mittag stand: da blickte er fragend in die Höhe - denn er hörte über sich den scharfen Ruf eines
Vogels. Und siehe! Ein Adler zog in weiten Kreisen durch die Luft, und an ihm hieng eine Schlange, nicht einer Beute gleich, sondern einer Freundin: denn sie hielt sich um
seinen Hals geringelt.
ERSTER THEILVON DEN DREI VERWANDLUNGEN
Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.
VON DEN LEHRSTÜHLEN DER TUGEND
Man rühmte Zarathustra einen Weisen, der gut vom Schlafe und von der Tugend zu reden wisse: sehr werde er geehrt und gelohnt dafür, und alle Jünglinge sässen vor seinem
Lehrstuhle. Zu ihm gieng Zarathustra, und mit allen Jünglingen sass er vor seinem Lehrstuhle. Und also sprach der Weise: Also sprach Zarathustra.
VON DEN HINTERWELTLERN
Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern. Eines leidenden und zerquälten Gottes Werk schien mir da die Welt. Also sprach Zarathustra.
VON DEN VERÄCHTERN DES LEIBES
Den Verächtern des Leibes will ich mein Wort sagen. Nicht umlernen und umlehren sollen sie mir, sondern nur ihrem eignen Leibe Lebewohl sagen - und also stumm
werden. Also sprach Zarathustra.
VON DEN FREUDEN UND LEIDENSCHAFTEN
Mein Bruder, wenn du eine Tugend hast, und es deine Tugend ist, so hast du sie mit Niemandem gemeinsam. Also sprach Zarathustra.
VOM BLEICHEN VERBRECHER
Ihr wollt nicht tödten, ihr Richter und Opferer, bevor das Thier nicht genickt hat? Seht, der bleiche Verbrecher hat genickt: aus seinem Auge redet die grosse
Verachtung. Also sprach Zarathustra.
VOM LESEN UND SCHREIBEN
Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist. Also sprach Zarathustra.
VOM BAUM AM BERGE
Zarathustra's Auge hatte gesehn, dass ein Jüngling ihm auswich. Und als er eines Abends allein durch die Berge gieng, welche die Stadt umschliessen, die genannt wird "die
bunte Kuh": siehe, da fand er im Gehen diesen Jüngling, wie er an einen Baum gelehnt sass und müden Blickes in das Thal schaute. Zarathustra fasste den Baum an, bei
welchem der Jüngling sass, und sprach also: Also sprach Zarathustra.
VON DEN PREDIGERN DES TODES
Es giebt Prediger des Todes: und die Erde ist voll von Solchen, denen Abkehr gepredigt werden muss vom Leben. Also sprach Zarathustra.
VOM KRIEG UND KRIEGSVOLKE
Von unsern besten Feinden wollen wir nicht geschont sein, und auch von Denen nicht, welche wir von Grund aus lieben. So lasst mich denn euch die Wahrheit sagen! Also sprach Zarathustra.
VOM NEUEN GÖTZEN
Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten. Also sprach Zarathustra.
VON DEN FLIEGEN DES MARKTES
Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit! Ich sehe dich betäubt vom Lärme der grossen Männer und zerstochen von den Stacheln der kleinen. Also sprach Zarathustra.
VON DER KEUSCHHEIT
Ich liebe den Wald. In den Städten ist schlecht zu leben: da giebt es zu Viele der Brünstigen. Also sprach Zarathustra.
VOM FREUNDE
"Einer ist immer zu viel um mich" - also denkt der Einsiedler. "Immer Einmal Eins - das giebt auf die Dauer Zwei!"
VON TAUSEND UND EINEM ZIELE
Viele Länder sah Zarathustra und viele Völker: so entdeckte er vieler Völker Gutes und Böses. Keine grössere Macht fand Zarathustra auf Erden, als gut und böse. Also sprach Zarathustra.
VON DER NÄCHSTENLIEBE
Ihr drängt euch um den Nächsten und habt schöne Worte dafür. Aber ich sage euch: eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber. Also sprach Zarathustra.
VOM WEGE DES SCHAFFENDEN
Willst du, mein Bruder, in die Vereinsamung gehen? Willst du den Weg zu dir selber suchen? Zaudere noch ein Wenig und höre mich. Also sprach Zarathustra.
VON ALTEN UND JUNGEN WEIBLEIN
"Was schleichst du so scheu durch die Dämmerung, Zarathustra? Und was birgst du behutsam unter deinem Mantel? Also sprach Zarathustra.
VOM BISS DER NATTER
Eines Tages war Zarathustra unter einem Feigenbaume eingeschlafen, da es heiss war, und hatte seine Arme über das Gesicht gelegt. Da kam eine Natter und biss ihn in den
Hals, so dass Zarathustra vor Schmerz aufschrie. Als er den Arm vom Gesicht genommen hatte, sah er die Schlange an: da erkannte sie die Augen Zarathustra's, wand sich
ungeschickt und wollte davon. "Nicht doch, sprach Zarathustra; noch nahmst du meinen Dank nicht an! Du wecktest mich zur Zeit, mein Weg ist noch lang." "Dein Weg ist noch
kurz, sagte die Natter traurig; mein Gift tödtet." Zarathustra lächelte. "Wann starb wohl je ein Drache am Gift einer Schlange? - sagte er. Aber nimm dein Gift zurück! Du
bist nicht reich genug, es mir zu schenken." Da fiel ihm die Natter von Neuem um den Hals und leckte ihm seine Wunde. Also sprach Zarathustra.
VON KIND UND EHE
Ich habe eine Frage für dich allein, mein Bruder: wie ein Senkblei werfe ich diese Frage in deine Seele, dass ich wisse, wie tief sie sei. Also sprach Zarathustra.
VOM FREIEN TODE
Viele sterben zu spät, und Einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: "stirb zur rechten Zeit!" Also sprach Zarathustra.
VON DER SCHENKENDEN TUGEND1
Als Zarathustra von der Stadt Abschied genommen hatte, welcher sein Herz zugethan war und deren Name lautet: "die bunte Kuh" - folgten ihm Viele, die sich seine Jünger
nannten und gaben ihm das Geleit. Also kamen sie an einen Kreuzweg: da sagte ihnen Zarathustra, dass er nunmehr allein gehen wolle; denn er war ein Freund des
Alleingehens. Seine Jünger aber reichten ihm zum Abschiede einen Stab, an dessen goldnem Griffe sich eine Schlange um die Sonne ringelte. Zarathustra freute sich des
Stabes und stützte sich darauf; dann sprach er also zu seinen Jüngern.
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Hier schwieg Zarathustra eine Weile und sah mit Liebe auf seine Jünger. Dann fuhr er also fort zu reden: - und seine Stimme hatte sich verwandelt.
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Als Zarathustra diese Worte gesagt hatte, schwieg er, wie Einer, der nicht sein letztes Wort gesagt hat; lange wog er den Stab zweifelnd in seiner Hand. Endlich sprach er
also: - und seine Stimme hatte sich verwandelt. Also sprach Zarathustra.
ZWEITER THEIL
"- und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will
DAS KIND MIT DEM SPIEGEL
Hierauf gieng Zarathustra wieder zurück in das Gebirge und in die Einsamkeit seiner Höhle und entzog sich den Menschen: wartend gleich einem Säemann, der seinen Samen
ausgeworfen hat. Seine Seele aber wurde voll von Ungeduld und Begierde nach Denen, welche er liebte: denn er hatte ihnen noch Viel zu geben. Diess nämlich ist das
Schwerste, aus Liebe die offne Hand schliessen und als Schenkender die Scham bewahren. Also sprach Zarathustra.
AUF DEN GLÜCKSELIGEN INSELN
Die Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut und süss; und indem sie fallen, reisst ihnen die rothe Haut. Ein Nordwind bin ich reifen Feigen. Also sprach Zarathustra.
VON DEN MITLEIDIGEN
Meine Freunde, es kam eine Spottrede zu eurem Freunde: "seht nur Zarathustra! Wandelt er nicht unter uns wie unter Thieren?" Also sprach Zarathustra.
VON DEN PRIESTERN
Und einstmals gab Zarathustra seinen Jüngern ein Zeichen und sprach diese Worte zu ihnen: Also sprach Zarathustra.
VON DEN TUGENDHAFTEN
Mit Donnern und himmlischen Feuerwerken muss man zu schlaffen und schlafenden Sinnen reden. Also sprach Zarathustra.
VOM GESINDEL
Das Leben ist ein Born der Lust; aber wo das Gesindel mit trinkt, da sind alle Brunnen vergiftet. Also sprach Zarathustra.
VON DEN TARANTELN
Siehe, das ist der Tarantel Höhle! Willst du sie selber sehn? Hier hängt ihr Netz: rühre daran, dass es erzittert. Also sprach Zarathustra.
VON DEN BERÜHMTEN WEISEN
Dem Volke habt ihr gedient und des Volkes Aberglauben, ihr berühmten Weisen alle! - und nicht der Wahrheit! Und gerade darum zollte man euch Ehrfurcht. Also sprach Zarathustra.
DAS NACHTLIED
Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. Also sang Zarathustra.
DAS TANZLIED
Eines Abends gieng Zarathustra mit seinen Jüngern durch den Wald; und als er nach einem Brunnen suchte, siehe, da kam er auf eine grüne Wiese, die von Bäumen und Gebüsch
still umstanden war: auf der tanzten Mädchen mit einander. Sobald die Mädchen Zarathustra erkannten, liessen sie vom Tanze ab; Zarathustra aber trat mit freundlicher
Gebärde zu ihnen und sprach diese Worte: Also sprach Zarathustra.
DAS GRABLIED
"Dort ist die Gräberinsel, die schweigsame; dort sind auch die Gräber meiner Jugend. Dahin will ich einen immergrünen Kranz des Lebens tragen." Also sang Zarathustra.
VON DER SELBST-ÜBERWINDUNG
"Wille zur Wahrheit" heisst ihr's, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig macht? Also sprach Zarathustra.
VON DEN ERHABENEN
Still ist der Grund meines Meeres: wer erriethe wohl, dass er scherzhafte Ungeheuer birgt! Also sprach Zarathustra.
VOM LANDE DER BILDUNG
Zu weit hinein flog ich in die Zukunft: ein Grauen überfiel mich. Also sprach Zarathustra.
VON DER UNBEFLECKTEN ERKENNTNISS
Als gestern der Mond aufgieng, wähnte ich, dass er eine Sonne gebären wolle: so breit und trächtig lag er am Horizonte. Also sprach Zarathustra.
VON DEN GELEHRTEN
Als ich im Schlafe lag, da frass ein Schaf am Epheukranze meines Hauptes, - frass und sprach dazu: "Zarathustra ist kein Gelehrter mehr." Also sprach Zarathustra.
VON DEN DICHTERN
"Seit ich den Leib besser kenne, - sagte Zarathustra zu einem seiner Jünger - ist mir der Geist nur noch gleichsam Geist; und alles das "Unvergängliche" - das ist auch nur
ein Gleichniss." Also sprach Zarathustra.
VON GROSSEN EREIGNISSEN
Es giebt eine Insel im Meere - unweit den glückseligen Inseln Zarathustra's - auf welcher beständig ein Feuerberg raucht; von der sagt das Volk, und sonderlich sagen es
die alten Weibchen aus dem Volke, dass sie wie ein Felsblock vor das Thor der Unterwelt gestellt sei: durch den Feuerberg selber aber führe der schmale Weg abwärts, der zu
diesem Thore der Unterwelt geleite. Also sprach Zarathustra.
DER WAHRSAGER
"- und ich sahe eine grosse Traurigkeit über die Menschen kommen. Die Besten wurden ihrer Werke müde. Also sprach Zarathustra. Darauf aber blickte er dem jünger, welcher den Traumdeuter abgegeben hatte, lange in's Gesicht und schüttelte dabei den Kopf. -
VON DER ERLÖSUNG
Als Zarathustra eines Tags über die grosse Brücke gieng, umringten ihn die Krüppel und Bettler, und ein Bucklichter redete also zu ihm:
VON DER MENSCHEN-KLUGHEIT
Nicht die Höhe: der Abhang ist das Furchtbare! Also sprach Zarathustra.
DIE STILLSTE STUNDE
Was geschah mir, meine Freunde? Ihr seht mich verstört, fortgetrieben, unwillig-folgsam, bereit zu gehen - ach, von euch fortzugehen!
DRITTER THEIL
"Ihr seht nach Oben, wenn ihr nach Erhebung verlangt.
DER WANDERER
Um Mitternacht war es, da nahm Zarathustra seinen Weg über den Rücken der Insel, dass er mit dem frühen Morgen an das andre Gestade käme: denn dort wollte er zu Schiff
steigen. Es gab nämlich allda eine gute Rhede, an der auch fremde Schiffe gern vor Anker giengen; die nahmen Manchen mit sich, der von den glückseligen Inseln über das
Meer wollte. Als nun Zarathustra so den Berg hinanstieg, gedachte er unterwegs des vielen einsamen Wanderns von Jugend an, und wie viele Berge und Rücken und Gipfel er
schon gestiegen sei. Also sprach Zarathustra und lachte dabei zum andern Male: da aber gedachte er seiner verlassenen Freunde -, und wie als ob er sich mit seinen Gedanken an ihnen vergangen habe, zürnte er sich ob seiner Gedanken. Und alsbald geschah es, dass der Lachende weinte: - vor Zorn und Sehnsucht weinte Zarathustra bitterlich.
VOM GESICHT UND RÄTHSEL1
Als es unter den Schiffsleuten ruchbar wurde, dass Zarathustra auf dem Schiffe sei, - denn es war ein Mann zugleich mit ihm an Bord gegangen, der von den glückseligen
Inseln kam - da entstand eine grosse Neugierde und Erwartung. Aber Zarathustra schwieg zwei Tage und war kalt und taub vor Traurigkeit, also, dass er weder auf Blicke noch
auf Fragen antwortete. Am Abende aber des zweiten Tages that er seine Ohren wieder auf, ob er gleich noch schwieg: denn es gab viel Seltsames und Gefährliches auf diesem
Schiffe anzuhören, welches weither kam und noch weiterhin wollte. Zarathustra aber war ein Freund aller Solchen, die weite Reisen thun und nicht ohne Gefahr leben mögen.
Und siehe! zuletzt wurde ihm im Zuhören die eigne Zunge gelöst, und das Eis seines Herzens brach: - da begann er also zu reden:
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"Halt! Zwerg! sprach ich. Ich! Oder du! Ich aber bin der Stärkere von uns Beiden -: du kennst meinen abgründlichen Gedanken nicht! Den - könntest du nicht
tragen!" - Also sprach Zarathustra.
VON DER SELIGKEIT WIDER WILLEN
Mit solchen Räthseln und Bitternissen im Herzen fuhr Zarathustra über das Meer. Als er aber vier Tagereisen fern war von den glückseligen Inseln und von seinen Freunden,
da hatte er allen seinen Schmerz überwunden -: siegreich und mit festen Füssen stand er wieder auf seinem Schicksal. Und damals redete Zarathustra also zu seinem
frohlockenden Gewissen: Also sprach Zarathustra. Und er wartete auf sein Unglück die ganze Nacht: aber er wartete umsonst. Die Nacht blieb hell und still, und das Glück selber kam ihm immer näher und näher. Gegen Morgen aber lachte Zarathustra zu seinem Herzen und sagte spöttisch: "das Glück läuft mir nach. Das kommt davon, dass ich nicht den Weibern nachlaufe. Das Glück aber ist ein Weib."
VOR SONNEN-AUFGANG
Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! Dich schauend schaudere ich vor göttlichen Begierden. Also sprach Zarathustra.
VON DER VERKLEINERNDEN TUGEND1
Als Zarathustra wieder auf dem festen Lande war, gieng er nicht stracks auf sein Gebirge und seine Höhle los, sondern that viele Wege und Fragen und erkundete diess und
das, also, dass er von sich selber im Scherze sagte: "siehe einen Fluss, der in vielen Windungen zurück zur Quelle fliesst!" Denn er wollte in Erfahrung bringen, was sich
inzwischen mit dem Menschen zugetragen habe: ob er grösser oder kleiner geworden sei. Und ein Mal sah er eine Reihe neuer Häuser; da wunderte er sich und
sagte:
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Ich gehe durch diess Volk und halte meine Augen offen: sie vergeben mir es nicht, dass ich auf ihre Tugenden nicht neidisch bin.
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Ich gehe durch diess Volk und lasse manches Wort fallen: aber sie wissen weder zu nehmen noch zu behalten. Also sprach Zarathustra.
AUF DEM OELBERGE
Der Winter, ein schlimmer Gast, sitzt bei mir zu Hause; blau sind meine Hände von seiner Freundschaft Händedruck.
VOM VORÜBERGEHEN
Also, durch viel Volk und vielerlei Städte langsam hindurchschreitend, gierig Zarathustra auf Umwegen zurück zu seinem Gebirge und seiner Höhle. Und siehe, dabei kam er
unversehens auch an das Stadtthor der grossen Stadt: hier aber sprang ein schäumender Narr mit ausgebreiteten Händen auf ihn zu und trat ihm in den Weg. Diess aber
war der selbige Narr, welchen das Volk "den Affen Zarathustra's" hiess: denn er hatte ihm Etwas vom Satz und Fall der Rede abgemerkt und borgte wohl auch gerne vom Schatze
seiner Weisheit. Der Narr aber redete also zu Zarathustra: Also sprach Zarathustra und gieng an dem Narren und der grossen Stadt vorüber.
VON DEN ABTRÜNNIGEN1
Ach, liegt Alles schon welk und grau, was noch jüngst auf dieser Wiese grün und bunt stand? Und wie vielen Honig der Hoffnung trug ich von hier in meine Bienenkörbe!
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"Wir sind wieder fromm geworden" - so bekennen diese Abtrünnigen; und Manche von ihnen sind noch zu feige, also zu bekennen.
DIE HEIMKEHR
Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit! Zu lange lebte ich wild in wilder Fremde, als dass ich nicht mit Thränen zu dir heimkehrte! Also sprach Zarathustra.
VON DEN DREI BÖSEN1
Im Traum, im letzten Morgentraume stand ich heut auf einem Vorgebirge, - jenseits der Welt, hielt eine Wage und wog die Welt.
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Wollust: allen busshemdigen Leib-Verächtern ihr Stachel und Pfahl, und als "Welt" verflucht bei allen Hinterweltlern: denn sie höhnt und narrt alle Wirr- und
Irr-Lehrer. Also sprach Zarathustra.
VOM GEIST DER SCHWERE1
Mein Mundwerk - ist des Volks: zu grob und herzlich rede ich für die Seidenhasen. Und noch fremder klingt mein Wort allen Tinten-Fischen und Feder-Füchsen.
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Wer die Menschen einst fliegen lehrt, der hat alle Grenzsteine verrückt; alle Grenzsteine selber werden ihm in die Luft fliegen, die Erde wird er neu taufen - als "die
Leichte." Also sprach Zarathustra.
VON ALTEN UND NEUEN TAFELN1
Hier sitze ich und warte, alte zerbrochene Tafeln um mich und auch neue halb beschriebene Tafeln. Wann kommt meine Stunde?
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Als ich zu den Menschen kam, da fand ich sie sitzen auf einem alten Dünkel: Alle dünkten sich lange schon zu wissen, was dem Menschen gut und böse sei.
3
Dort war's auch, wo ich das Wort "Übermensch" vom Wege auflas, und dass der Mensch Etwas sei, das überwunden werden müsse,
4
Siehe, hier ist eine neue Tafel: aber wo sind meine Brüder, die sie mit mir zu Thale und in fleischerne Herzen tragen? -
5
Also will es die Art edler Seelen: sie wollen Nichts umsonst haben, am wenigsten das Leben.
6
Oh meine Brüder, wer ein Erstling ist, der wird immer geopfert. Nun aber sind wir Erstlinge.
7
Wahr sein - das können Wenige! Und wer es kann, der will es noch nicht! Am wenigsten aber können es die Guten.
8
Wenn das Wasser Balken hat, wenn Stege und Geländer über den Fluss springen: wahrlich, da findet Keiner Glauben, der da spricht: "Alles ist im Fluss."
9
Es giebt einen alten Wahn, der heisst Gut und Böse. Um Wahrsager und Sterndeuter drehte sich bisher das Rad dieses Wahns.
10
"Du sollst nicht rauben! Du sollst nicht todtschlagen!" - solche Worte hiess man einst heilig; vor ihnen beugte man Knie und Köpfe und zog die Schuhe aus.
11
Diess ist mein Mitleid mit allem Vergangenen, dass ich sehe: es ist preisgegeben, -
12
Oh meine Brüder, ich weihe und weise euch zu einem neuen Adel: ihr sollt mir Zeuger und Züchter werden und Säemänner der Zukunft, -
13
"Wozu leben? Alles ist eitel! Leben - das ist Stroh dreschen; Leben - das ist sich verbrennen und doch nicht warm werden." -
14
"Dem Reinen ist Alles rein" - so spricht das Volk. Ich aber sage euch: den Schweinen wird Alles Schwein!
15
Solche Sprüche hörte ich fromme Hinterweltler zu ihrem Gewissen reden; und wahrlich, ohne Arg und Falsch, - ob es Schon nichts Falscheres in der Welt giebt, noch
Ärgeres.
16
"Wer viel lernt, der verlernt alles heftige Begehren" - das flüstert man heute sich zu auf allen dunklen Gassen.
17
Da steht der Nachen, - dort hinüber geht es vielleicht in's grosse Nichts. - Aber wer will in diess "Vielleicht" einsteigen?
18
Oh meine Brüder, es giebt Tafeln, welche die Ermüdung, und Tafeln, welche die Faulheit schuf, die faulige: ob sie schon gleich reden, so wollen sie doch ungleich gehört
sein. -
19
Ich schliesse Kreise um mich und heilige Grenzen; immer Wenigere steigen mit mir auf immer höhere Berge, - ich baue ein Gebirge aus immer heiligeren Bergen. -
20
Oh meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stossen!
21
Ich liebe die Tapferen: aber es ist nicht genug, Hau-Degen sein, - man muss auch wissen Hau-schau-Wen!
22
Wenn Die - Brod umsonst hätten, wehe! Wonach würden Die schrein! Ihr Unterhalt - das ist ihre rechte Unterhaltung; und sie sollen es schwer haben!
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So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den Einen, gebärtüchtig das Andre, beide aber tanztüchtig mit Kopf und Beinen.
24
Euer Eheschliessen: seht zu, dass es nicht ein schlechtes Schliessen sei! Ihr schlosset zu schnell: so folgt daraus - Ehebrechen!
25
Wer über alte Ursprünge weise wurde, siehe, der wird zuletzt nach Quellen der Zukunft suchen und nach neuen Ursprüngen. -
26
Oh meine Brüder! Bei Welchen liegt doch die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? -
27
Oh meine Brüder, verstandet ihr auch diess Wort? Und was ich einst sagte vom "letzten Menschen"? - -
28
Ihr flieht von mir? Ihr seid erschreckt? Ihr zittert vor diesem Worte?
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"Warum so hart! - sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle; sind wir denn nicht Nah-Verwandte?" -
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Oh du mein Wille! Du Wende aller Noth du meine Nothwendigkeit! Bewahre mich vor allen kleinen Siegen! Also sprach Zarathustra.
DER GENESENDE1
Eines Morgens, nicht lange nach seiner Rückkehr zur Höhle, sprang Zarathustra von seinem Lager auf wie ein Toller, schrie mit furchtbarer Stimme und gebärdete sich, als ob
noch Einer auf dem Lager läge, der nicht davon aufstehn wolle; und also tönte Zarathustra's Stimme, dass seine Thiere erschreckt hinzukamen, und dass aus allen Höhlen und
Schlupfwinkeln, die Zarathustra's Höhle benachbart waren, alles Gethier davon huschte, - fliegend, flatternd, kriechend, springend, wie ihm nur die Art von Fuss und Flügel
gegeben war. Zarathustra aber redete diese Worte:
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Kaum aber hatte Zarathustra diese Worte gesprochen, da stürzte er nieder gleich einem Todten und blieb lange wie ein Todter. Als er aber wieder zu sich kam, da war er
bleich und zitterte und blieb liegen und wollte lange nicht essen noch trinken. Solches Wesen dauerte an ihm sieben Tage; seine Thiere verliessen ihn aber nicht bei Tag
und Nacht, es sei denn, dass der Adler ausflog, Speise zu holen. Und was er holte und zusammenraubte, das legte er auf Zarathustra's Lager: also dass Zarathustra endlich
unter gelben und rothen Beeren, Trauben, Rosenäpfeln, wohlriechendem Krautwerke und Pinien-Zapfen lag. Zu seinen Füssen aber waren zwei Lämmer gebreitet, welche der Adler
mit Mühe ihren Hirten abgeraubt hatte.
VON DER GROSSEN SEHNSUCHT
Oh meine Seele, ich lehrte dich "Heute" sagen wie "Einst" und "Ehemals" und über alles Hier und Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen. Also sprach Zarathustra.
DAS ANDERE TANZLIED1
"In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben: Gold sah ich in deinem Nacht-Auge blinken, - mein Herz stand still vor dieser Wollust:
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Da antwortete mir das Leben also und hielt sich dabei die zierlichen Ohren zu: Also sprach Zarathustra.
3Eins! Oh Mensch! Gieb Acht! Zwei! Was spricht die tiefe Mitternacht? Drei! "Ich schlief, ich schlief -, Vier! "Auf tiefen Traum bin ich erwacht:- Fünf! "Die Welt ist tief, Sechs! "Und tiefer als der Tag gedacht. Sieben! "Tief ist ihr Weh -, Acht! "Lust - tiefer noch als Herzeleid: Neun! "Weh spricht: Vergeh! Zehn! "Doch alle Lust will Ewigkeit -, Elf! "- will tiefe, tiefe Ewigkeit! Zwölf!
DIE SIEBEN SIEGEL
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