PSYCHOLOGIE HEUTE FEBRUAR 2000 (S. 40-42)Julia Weidenbach"Dein Papa ist ganz böse"
In vielen Scheidungsfamilien bringt ein Elternteil die Kinder gegen den anderen auf. Die negative Beeinflussung nimmt oft schon den Charakter einer "Gehirnwäsche" an: Manche Kinder verweigern schließlich jeglichen Kontakt zum "bösen" Elternteil. Psychologen warnen vor den schwerwiegenden psychischen Folgen des "Syndroms der Elternentfremdung"
Claudias Eltern sind geschieden. Die Achtjährige lebt bei ihrer Mutter. Obwohl beide Eltern das Sorgerecht haben, bekommt der Vater seine Tochter so
gut wie gar nicht mehr zu sehen. Die ersten Monate nach der Scheidung war zunächst alles gut gelaufen, Claudia kam ihn regelmäßig besuchen und kehrte fröhlich von den
gemeinsamen Wochenenden zurück. Doch dann fielen ihre Besuche immer häufiger aus: Mal war sie krank, mal auf einer Sportveranstaltung, mal bei einem Kindergeburtstag.
Schließlich erfährt der Vater, dass Claudia sich weigert, ihn besuchen zu kommen.
Krankhafte Angst, das Kind auch noch zu verlieren
Das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung wird untergraben, wenn diese Geschichten nicht in Einklang zu bringen sind mit den eigenen Erfahrungen. Die
Angst, den betreuenden Elternteil zu verärgern und sogar zu verlieren, lässt die betroffenen Kinder die eigene Wahrnehmung verdrängen. Die Behauptung der Mutter: "Papa saß
abends immer nur vorm Fernseher und hat sich nie um dich gekümmert", schiebt sich vor die Erinnerungen an Spiele mit dem Vater nach dessen Feierabend. Mit den Erinnerungen
spaltet das Kind auch einen Teil seines eigenen Selbst ab, seine Identitätsfindung wird gestört.
1. Zurückweisungskampagne
2. Keine Ambivalenz
3. Reflexartige Parteinahme
4. Geborgte Szenarien
5. Ablehnung gegenüber Verwandten
6. Keine Schuldgefühle
7. Das Phänomen der "eigenen Meinung"
Literatur
"Kinder wollen Kontakt zu beiden Eltern"Ein Gespräch mit Ursula Ofuatey-Kodjoe über das Syndrom der ElternentfremdungPSYCHOLOGIE HEUTE (PH): Wie dramatisch ist das Problem der Elternentfremdung in Deutschland? Wie viele Kinder sind davon betroffen? URSULA OFUATEY-KODJOE (KODJOE): Statistiken hierüber gibt es nicht. Langzeitstudien aus den USA gehen von etwa 16 Prozent sehr konflikthaften Trennungen aus mit einem hohen Anteil an Elternentfremdung. Wir wissen, dass in Deutschland über die Hälfte der Kinder nach Trennung und Scheidung aus vielerlei Gründen den Kontakt zu einem Elternteil verlieren, in dieser Zahl sind auch Fälle von Elternentfremdung enthalten. PH: Gibt es bereits Erkenntnisse darüber, was die Langzeitfolgen der Elternentfremdung sind?
KODJOE: Zu den bekannten Langzeitfolgen, die bei lang andauernden konfliktreichen Elterntrennungen auftreten können, gehören Störungen in der
Persönlichkeitsentwicklung der Kinder, Einbußen des Selbstwertgefühls und der eigenen Beziehungssicherheit und Beziehungsfähigkeit. Die Kinder haben kein Modell für eine
gelungene Paarbeziehung. So kann die Ausgrenzung eines Elternteils durch Entfremdung auch über Generationen weitergegeben werden: Die Großmutter war allein erziehend, die
Mutter auch; ihre Kinder wachsen mit diesem Modell auf und haben möglicherweise dadurch ein vorwiegend negatives Männerbild. PH: Nun gibt es aber nach wie vor Eltern, die gar nicht zur Verfügung stehen wollen, die nach einer Scheidung die Sorge für das Kind gerne dem anderen überlassen. Was soll man in solchen Fällen tun? KODJOE: Durch die Kindschaftsrechtsreform haben wir ein neues Gesetz, das dem Kind das Recht auf Umgang mit beiden Eltern zusichert. Die Reaktionen hierauf sind oft: Man könne niemanden zwingen, sich um sein Kind zu kümmern. Natürlich kann man das nicht. Es ist aber eine Tatsache, dass sehr viele Väter nicht wissen, wie wichtig sie für ihre Kinder sind. Es muss noch viel Informations- und Aufklärungsarbeit geleistet werden, um diese Väter zu motivieren, Verantwortung zu übernehmen. PH: Was ist mit den Vätern und Müttern, die gezwungen sind, ihr Kind alleine aufzuziehen, weil der andere Elternteil die Familie im Stich gelassen hat? Macht man diesen allein Erziehenden nicht indirekt einen Vorwurf und stigmatisiert ihre Kinder, wenn man betont, dass für eine gesunde psychische Entwicklung unbedingt beide Eltern nötig sind?
KODJOE: Allein erziehend bedeutet nicht automatisch, dass der andere für das Kind Oberhaupt nicht mehr zur Verfügung steht. Viele Eltern entwickeln nach der
Trennung eine neue Form funktionierender Elternbeziehung und arbeiten im Interesse ihrer Kinder zusammen. PH: Was können Psychologen tun, damit ein Elternteil nach der Scheidung nicht beginnt, die Kinder gegen den anderen aufzubringen?
KODJOE: Es gibt keine Eltern, die ihren Kindern wissentlich Schaden zufügen wollen. In der familienerschütternden Krise haben sie ein gesetzlich verbrieftes Recht
auf Unterstützung und Beratung. Diese können sie in Anspruch nehmen, um die Beziehung nach der Trennung neu zu gestalten. Konflikte können so gelöst werden, dass die
gemeinsame Elternschaft erhalten bleibt und das eigene Leben ohne anhaltenden biographischen Bruch weitergeht. PH: Wie sollte sich die Justiz gegenüber Müttern und Vätern verhalten, die ihre Kinder gegen den ehemaligen Partner aufbringen? KODJOE: Sie muss klar sagen: Dieser Elternteil verstößt gegen das Wohl und die Rechte des Kindes. Nach unserem Gesetz haben Kinder jetzt das Recht auf Umgang mit beiden Eltern. Oft reicht es schon, wenn der Richter jemandem, der das alleinige Sorgerecht beantragt, klar macht, dass er damit nie die alleinige Verfügungsgewalt hat. Wenn ein Kind als persönlicher Besitz betrachtet wird, kann das Sorgerecht entzogen werden. Die richterliche Autorität bewirkt hier oft Wunder, sie wird jedoch noch zu selten eingesetzt. Für viele Leute stellt der Richter eine Art Vaterfigur dar. Sagt er: Hier endet das Recht des Erwachsenen! Hier beginnt die Freiheit des Kindes!, bewirkt dies oft schon ein Umdenken. Für Sozialarbeiter und Psychologen wird die Arbeit mit diesen Eltern dadurch erheblich leichter.
Immer noch gilt: "Wenn die Mutter nicht will, kann man nichts machen..."PH: Sind sich die deutschen Richter Oberhaupt der Problemlage bewusst? Wissen sie, dass viele Kinder, die den Umgang mit einem Elternteil ablehnen, beeinflusse sind?
KODJOE: Die meisten Richter sind sich des Problems bewusst, denn sie alle haben schon mit solchen Fällen zu tun gehabt. In der Justiz hat ein Umdenken begonnen.
Früher galt: Die Kinder gehören zur Mutter. Der Vater hat Umgang mit den Kindern, um sich davon überzeugen zu können, dass es ihnen gut geht. Viele Fachleute sind diesem
Paradigma nach wie vor verhaftet. Deshalb gilt häufig: Wenn die Mutter nicht will, kann man nichts machen." Das neue Paradigma sieht die Situation aus der Sicht des
Kindes, und diese stellt sich vollkommen anders dar: Kinder wollen im Normalfall Kontakt zu beiden Eltern, natürlich nur, wenn sie nicht misshandelt oder missbraucht
wurden. Diese Erkenntnis fordert in Zukunft einen anderen Umgang mit Scheidungsfällen. PH: In den USA findet das Syndrom der Elternentfremdung bereits Erwähnung in Urteilen und Gutachten. Geht man dort Ihrer Meinung nach erfolgreicher gegen Elternentfremdung vor? KODJOE: In den US-Staaten ist man unterschiedlich fortschrittlich. Elternentfremdung ist in vielen Staaten justiziabel. Weigert sich ein Elternteil, seine Erziehungskompetenz dafür einzusetzen, dass die Kinder eine Beziehung zu beiden Eltern haben, dann wird in vielen Fällen dem anderen Elternteil das Alleinsorgerecht zugesprochen. PH: Ist dies Vorgehen nicht zu radikal? Schließlich hat das Kind die ablehnende Haltung gegenüber dem abwesenden Elternteil verinnerlicht. Wird es nun gezwungen, zu diesem zu ziehen, so hat dies möglicherweise ebenfalls schwer wiegende Auswirkungen auf seine Psyche.
KODJOE: In den USA hat man positive Erfahrungen mit diesem radikalen Vorgehen gemacht. Die Kinder legen ihre feindliche Haltung sehr schnell ab. Nach kurzer Zeit
ist meist auch wieder der Umgang mit dem ehemals programmierenden Elternteil möglich. Die Kinder verkraften den radikalen Übergang besser als den "weichen", bei dem man
das Kind beispielsweise bei einer neutralen dritten Person oder in einem Heim unterbrachte. Im Nachhinein scheint es einleuchtend, dass ein weicher Übergang mehr Probleme
für das Kind mit sich bringt. Es bekommt vermittelt, dass mit dem anderen Elternteil doch etwas nicht stimmen würde, sonst hätte es ja sofort zu ihm gekonnt. Allerdings
ist in solchen Fällen eine sorgfältige Diagnostik und Beratung nötig. PH: Wären Sie dafür, in Konfliktfällen eine Pflichtberatung einzuführen? KODJOE: Das Wort Pflichtberatung klingt negativ. Aber in Scheidungsfällen hinterfragt ja auch niemand, dass die Pflicht besteht, sich von einem Anwalt beraten zu lassen. Wenn Kinder und die betroffenen Eltern leiden, ist Beratung nötig. Es gibt schon viele gute Modelle dafür. Zum Beispiel könnten Eltern verpflichtet werden, vor dem juristischen Procedere eine Mediation zu machen; oder sie müssen einen Berater konsultieren, um zu erfahren, was ihnen helfen kann. PH: Was geschieht, wenn entfremdete Kinder doch plötzlich wieder Interesse gegenüber dem ausgegrenzten Elternteil empfinden? Wenn sie auf einmal den Wunsch verspüren, wieder Kontakt aufzunehmen?
KODJOE: Häufig suchen junge Erwachsene den Kontakt zum verlorenen Elternteil, um zu prüfen, ob das wirklich ein "verlogener" Vater ist oder eine "unmoralische"
Mutter. Dann zeigt sich oft ein Bumerangeffekt für den programmierenden Elternteil: Die Kinder sind aufgewachsenen mit der Überzeugung, der abwesende Elternteil habe sich
nie interessiert, nie etwas für die Familie getan. Suchen sie ihn dann auf, so kann er dies oft allein anhand eines dicken Aktenordners widerlegen. In diesem Moment können
diese jungen Menschen die Vertrauensbeziehung zu der Person verlieren, mit der sie gelebt haben. Dann nämlich, wenn sie feststellen, dass alles auf einer Lüge aufgebaut
war. Sie erkennen schmerzlich, dass sich die verlorene Kindheit mit dem einen Elternteil nicht mehr nachholen lässt. Mit Ursula Ofuatey-Kodjoe sprach Julia Weidenbach Ursula Ofuatey-Kodjoe ist Diplomsozialarbeiterin, Diplompsychologin und Mediatorin, Sie arbeitet in der Trennungs- und Scheidungsberatung, als Sachverständige in Sorge- und Umgangskonflikten und in der Fortbildung. Außerdem ist sie Dozentin des Verbandes Anwalt des Kindes. Für ihre Forschung zum Syndrom der Elternentfremdung bittet Frau Kodjoe geschiedene und getrennt lebende Elter mit ihr in Verbindung zu treten, wenn sie:
Betroffene (junge Erwachsene) mögen sich melden, wenn sie:
Ursula Ofuatey-Kodjoe, Fichtenstraße 29, 79194 Gundelfingen, Tel.: 0761/4001277. |