PSYCHOLOGIE HEUTE FEBRUAR 2000 (S. 40-42)

Julia Weidenbach

"Dein Papa ist ganz böse"

 

In vielen Scheidungsfamilien bringt ein Elternteil die Kinder gegen den anderen auf. Die negative Beeinflussung nimmt oft schon den Charakter einer "Gehirnwäsche" an: Manche Kinder verweigern schließlich jeglichen Kontakt zum "bösen" Elternteil. Psychologen warnen vor den schwerwiegenden psychischen Folgen des "Syndroms der Elternentfremdung"

  Claudias Eltern sind geschieden. Die Achtjährige lebt bei ihrer Mutter. Obwohl beide Eltern das Sorgerecht haben, bekommt der Vater seine Tochter so gut wie gar nicht mehr zu sehen. Die ersten Monate nach der Scheidung war zunächst alles gut gelaufen, Claudia kam ihn regelmäßig besuchen und kehrte fröhlich von den gemeinsamen Wochenenden zurück. Doch dann fielen ihre Besuche immer häufiger aus: Mal war sie krank, mal auf einer Sportveranstaltung, mal bei einem Kindergeburtstag. Schließlich erfährt der Vater, dass Claudia sich weigert, ihn besuchen zu kommen.
  Eine Geschichte, wie viele geschiedene Eltern sie erleben. Zwanzig Prozent aller Ehen werden heute geschieden, und damit wächst auch die Zahl der Mütter und Väter, die ihr Kind nach der Trennung vom Partner kaum mehr zu sehen bekommen. Häufiger Grund: Das Kind will nur noch mit dem Elternteil zu tun haben, bei dem es lebt. In neun von zehn Fällen ist dies die Mutter. Viele Väter reagieren mit Fassungslosigkeit und Verzweiflung auf die Kontaktverweigerung und wollen nicht akzeptieren, dass sie am Leben ihrer Kinder nicht mehr teilhaben sollen.
  Warum weigern sich viele Scheidungskinder, den Vater oder die Mutter weiterhin zu sehen? In den USA beschäftigen sich Psychologen seit einiger Zeit mit diesem Phänomen. Ihre Untersuchungen haben zu Ergebnissen geführt, die betroffene Eltern Hoffnung schöpfen lassen.
  Die Störung hat inzwischen auch einen Namen: Parental Alienation Syndrome (PAS) - Syndrom der Elternentfremdung. Sie wird definiert als die rigorose Abkehr eines Kindes von einem Elternteil bei gleichzeitiger Zuwendung zu dem Elternteil, bei dem es lebt. Kinder, so die Grundannahme, lieben und brauchen grundsätzlich beide Eltern. Das Syndrom der Elternentfremdung entwickeln sie unter Einfluss des ständig betreuenden Elternteils: Er bringt bewusst oder unbewusst das Kind gegen den ehemaligen Partner auf. Der Prozess verselbstständigt sich, weil das Kind nun beginnt, eigene Geschichten und Erfahrungen zu erfinden, die den abwesenden Elternteil in ein schlechtes Licht stellen. Weitere situative Umstände kommen bei der Entwicklung von Elternentfremdung meist hinzu, wie beispielsweise große räumliche Entfernungen zwischen den Familienmitgliedern.
  Der Begriff Parental Alienation Syndrome wurde 1984 von Richard A. Gardner geprägt, der klinischer Professor für Kinderpsychiatrie an der Columbia University ist. Mittlerweile hat die psychologische Forschung bereits Einfluss auf die amerikanische und kanadische Rechtsprechung, da PAS in Gutachten und Urteilsbegründungen Erwähnung findet. Zunehmend sieht die amerikanische Justiz hinter dem scheinbar eindeutigen Willen eines Kindes den Einfluss eines Elternteils, der es manipuliert und gegen den Expartner aufbringt.
  Was geht in Erwachsenen vor, die ihre Kinder derart beeinflussen? Die sie "programmieren" und einer "Gehirnwäsche" unterziehen, wie es in der amerikanischen Fachliteratur sogar heißt? Diese Eltern befürchten, nach der Trennung vom Partner auch noch das Kind zu verlieren. Sie haben das Gefühl, sich mit dem Kind gegen den Rest der Welt verbunden zu müssen. Ihre Beziehung zum Kind ist von einer krankhaften Angst geprägt, die andere Bezugspersonen ausschließt.
  Programmierende Eltern empfinden häufig Rachegefühle und Wut gegenüber dem Expartner. Der Entzug des Kindes ist die Vergeltung für das, was er ihnen angetan hat. Projektion spielt dabei eine wichtige Rolle: Die eigene Schuld am Scheitern der Beziehung gestehen sie sich nicht ein, sondern machen allein den anderen verantwortlich. Das Kind wird zum Komplizen der Projektion, indem es ebenfalls nur einen beschuldigt, die Familie zerstört zu haben.
  Die meisten programmierenden Eltern sind sich nicht bewusst, dass sie ihr Kind gegen den ehemaligen Partner aufwiegeln. Sie rationalisieren ihr Verhalten und sind der Überzeugung, sich lediglich für das Wohl des Kindes einzusetzen. So werden Besuche des Kindes beispielsweise mit dem Argument abgesagt, es müsse sich erst an die neue Familiensituation gewöhnen und dürfe nicht überfordert werden. Lebt das Kind in einer Stieffamilie, so wird der leibliche Elternteil als Eindringling empfunden, der die neue Ordnung stört. Der oder die Ex ist schuld an Problemen des Kindes wie Schwierigkeiten in der Schule oder psychosomatischen Beschwerden. Insbesondere wenn Feste und Familienzusammenkünfte anstehen, versuchen diese Eltern, auf ihr Kind einzuwirken.
  Wie in Claudias Fall ist es meist das Kind selbst, das den völligen Kontaktabbruch fordert. Die Eltern ahnen in der Regel nicht, dass hinter dieser Haltung ein langer Prozess steht, der das Kind extrem belastet und auch langfristig schwer wiegende Auswirkungen auf seine Psyche haben kann.
  Kinder, welche die Trennung ihrer Eltern erlebt haben, befürchten vor allem, ebenfalls verlassen zu werden. Ihr Bedürfnis nach Sicherheit treibt sie dazu, sich mit dem Elternteil zu identifizieren, bei dem sie leben: Ihn wollen sie auf keinen Fall verlieren.
  Insbesondere kleine Kinder sind so leicht zu beeinflussen. Verunglimpfungen und Hetzkampagnen über den Vater oder die Mutter wirken sich negativ auf ihre Fähigkeit aus, die Realität zu überprüfen. Denn erst im Alter von zehn Jahren können Kinder zuverlässig unterscheiden zwischen ihrer eigenen Wahrnehmung, ihren Phantasien und Geschichten, die ihnen jemand erzählt hat.

 

Krankhafte Angst, das Kind auch noch zu verlieren

  Das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung wird untergraben, wenn diese Geschichten nicht in Einklang zu bringen sind mit den eigenen Erfahrungen. Die Angst, den betreuenden Elternteil zu verärgern und sogar zu verlieren, lässt die betroffenen Kinder die eigene Wahrnehmung verdrängen. Die Behauptung der Mutter: "Papa saß abends immer nur vorm Fernseher und hat sich nie um dich gekümmert", schiebt sich vor die Erinnerungen an Spiele mit dem Vater nach dessen Feierabend. Mit den Erinnerungen spaltet das Kind auch einen Teil seines eigenen Selbst ab, seine Identitätsfindung wird gestört.
  Die Ablehnung des abwesenden Elternteils bringt zunächst scheinbar positive Aspekte für das Kind mit sich: Spannungen und negative Gefühle, die sich oft über Jahre hinweg durch die Auseinandersetzungen der Eltern angestaut haben, können endlich kanalisiert werden. Loyalitätskonflikte werden oberflächlich gelöst, indem das Kind für einen der beiden Eltern Partei ergreift. Tatsächlich verdrängt es aber einen tiefen Trennungsschmerz gegenüber dem abgelehnten Elternteil.
  Ob ein Kind indoktriniert ist oder tatsächlich Gründe vorliegen, aufgrund derer es den abwesenden Vater, die weggezogene Mutter von sich weist, ist oft schwer zu entscheiden. Insbesondere Familienrichter, die über Sorge- und Umgangsrecht zu entscheiden haben, sind mit diesem Problem konfrontiert. Sie bewegen sich in einer Grauzone, in der schwer auszumachen ist, ob das Syndrom der Elternentfremdung vorliegt. Dennoch gibt es einige Anzeichen im Verhalten von Scheidungskindern, die darauf hindeuten, dass sie beeinflusst werden.

 

1. Zurückweisungskampagne
Die Kinder weisen jegliche positive Erinnerung an den abwesenden Elternteil von sich. Alles, was mit ihm zusammenhängt, wird negativ beschrieben. Fordert man das Kind auf, konkrete Erlebnisse zu schildern, die zu dieser Meinung geführt haben, so verschanzt es sich hinter allgemeinen Aussagen wie: "Der Papa ist gemein. Ich will ihn nie wieder sehen." Auch absurde Rechtfertigungen weisen auf das PAS hin. Die Kinder führen oft triviale Ereignisse an, um ihre Ablehnung zu begründen:"Die Mama spricht immer so laut." Fürsorgliches und liebevolles Verhalten wird negativ umgedeutet. So wird beispielsweise eine schulpsychologische Untersuchung wegen Legasthenie ausgelegt als: "Der Papa hat ein Attest geschrieben, dass wir geistig behindert sind."

 

2. Keine Ambivalenz
Entfremdete Kinder sind nicht imstande, positive und negative Eigenschaften beider Eltern zu benennen. Für sie ist der eine nur gut, der andere nur schlecht. Hakt man nach, so zählen sie Pauschalurteile auf, die wie auswendig gelernt wirken.

 

3. Reflexartige Parteinahme
Egal was vorgefallen ist und worüber gerade diskutiert wird, das Kind vertritt immer die Position des programmierenden Elternteils. Einwände von Außenstehenden nimmt es nicht an: "Ich weiß gerade nicht mehr, was da war. Aber der Papa lügt."

 

4. Geborgte Szenarien
Die Szenen, die PAS-Kinder beschreiben, wie auch die Sprache, die sie dabei benutzen, lässt den Einfluss des Erwachsenen erkennen. Auch dies wird durch Nachfragen deutlich: Das Kind kann nicht erklären, wie die Mutter es "besticht", wann sie es "belästigt" hat, wie sie es "vernachlässigt".

 

5. Ablehnung gegenüber Verwandten
Die betroffenen Kinder lehnen nicht nur den einen Elternteil ab, sondern auch dessen Verwandte und Freunde. Auch sie sind "böse", selbst wenn das Kind zu ihnen früher eine intensive Beziehung hatte.

 

6. Keine Schuldgefühle
Die Kinder empfinden keinerlei Schuld gegenüber dem Elternteil, den sie von sich weisen. Im Gegenteil stellen sie oft gleichzeitig Forderungen: Sie verlangen finanzielle Unterstützung und Geschenke, ohne dabei Dankbarkeit zu zeigen.

 

7. Das Phänomen der "eigenen Meinung"
Typisch für die betroffenen Kinder ist, dass sie ständig betonen, ihre eigene Meinung zu vertreten. Schon Drei- und Vierjährige behaupten das. Die beeinflussenden Eltern unterstützen sie dabei, wenn sie beispielsweise vor Außenstehenden das Kind auffordern, seine Position zu vertreten. Die Eltern sind meist wirklich überzeugt und stolz darauf, dass das Kind seine eigene Meinung vertritt. Unbewusst senden sie ihm jedoch Signale, wie es sich zu verhalten hat. In diesem Zusammenhang sprechen Psychologen von double bind messages. Die Aufforderung lautet: "Dieses Wochenende verbringst du mit deinem Vater", aber Mimik, Gestik und Körperhaltung signalisieren: "Wenn du mich lieb hast, bleibst du hier."
  Insbesondere das Phänomen der eigenen Meinung macht es für Richter und Sachverständige schwer zu entscheiden, ob sie es mit einem Fall von Elternentfremdung zutun haben. Dennoch zeichnet sich in vielen US-Staaten die Tendenz ab, das Syndrom in der Rechtsprechung stärker zu berücksichtigen. Psychologen fordern, dass auch die Justiz in Deutschland sich mit dem Syndrom der Elternentfremdung auseinander setzen sollte. Sie befürchten, dass durch die Kindschaftsrechtsreform die Anzahl der betroffenen Kinder zunehmen wird. Denn nach der neuen Gesetzgebung haben beide Eltern die Pflicht und auch das Recht auf Umgang mit den Kindern. Das gemeinsame Sorgerecht ist der Normalfall, das Alleinsorgerecht muss beantragt werden. Möglicherweise werden deshalb Eltern, um die alleinige Sorge zu bekommen, verstärkt ihre Kinder beeinflussen.

 

Literatur

  • Wilfried von Boch-Galhau: Das Parental Alienation Syndrome, das Wohl und die Interessenvertretung des Kindes. Vortrag beim Interessenverband Unterhalt und Familienrecht (ISUV/VDU), 26.3.1999 in Würzburg.
  • Ursula Ofuatey-Kodjoe, Peter Koeppel: The Parental Alienation Syndrome (PAS). In: Der Amtsvormund, Sonderdruck 1/1998.


PSYCHOLOGIE HEUTE FEBRUAR 2000 (S. 43-45)

"Kinder wollen Kontakt zu beiden Eltern"

Ein Gespräch mit Ursula Ofuatey-Kodjoe über das Syndrom der Elternentfremdung

PSYCHOLOGIE HEUTE (PH): Wie dramatisch ist das Problem der Elternentfremdung in Deutschland? Wie viele Kinder sind davon betroffen?

URSULA OFUATEY-KODJOE (KODJOE): Statistiken hierüber gibt es nicht. Langzeitstudien aus den USA gehen von etwa 16 Prozent sehr konflikthaften Trennungen aus mit einem hohen Anteil an Elternentfremdung. Wir wissen, dass in Deutschland über die Hälfte der Kinder nach Trennung und Scheidung aus vielerlei Gründen den Kontakt zu einem Elternteil verlieren, in dieser Zahl sind auch Fälle von Elternentfremdung enthalten.

PH: Gibt es bereits Erkenntnisse darüber, was die Langzeitfolgen der Elternentfremdung sind?

KODJOE: Zu den bekannten Langzeitfolgen, die bei lang andauernden konfliktreichen Elterntrennungen auftreten können, gehören Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder, Einbußen des Selbstwertgefühls und der eigenen Beziehungssicherheit und Beziehungsfähigkeit. Die Kinder haben kein Modell für eine gelungene Paarbeziehung. So kann die Ausgrenzung eines Elternteils durch Entfremdung auch über Generationen weitergegeben werden: Die Großmutter war allein erziehend, die Mutter auch; ihre Kinder wachsen mit diesem Modell auf und haben möglicherweise dadurch ein vorwiegend negatives Männerbild.
Jedes Kind hat Persönlichkeitsanteile seiner Mutter und seines Vaters. Die eigenen Anteile des abgelehnten Elternteils kann das Kind nur erschwert annehmen und integrieren.

PH: Nun gibt es aber nach wie vor Eltern, die gar nicht zur Verfügung stehen wollen, die nach einer Scheidung die Sorge für das Kind gerne dem anderen überlassen. Was soll man in solchen Fällen tun?

KODJOE: Durch die Kindschaftsrechtsreform haben wir ein neues Gesetz, das dem Kind das Recht auf Umgang mit beiden Eltern zusichert. Die Reaktionen hierauf sind oft: Man könne niemanden zwingen, sich um sein Kind zu kümmern. Natürlich kann man das nicht. Es ist aber eine Tatsache, dass sehr viele Väter nicht wissen, wie wichtig sie für ihre Kinder sind. Es muss noch viel Informations- und Aufklärungsarbeit geleistet werden, um diese Väter zu motivieren, Verantwortung zu übernehmen.

PH: Was ist mit den Vätern und Müttern, die gezwungen sind, ihr Kind alleine aufzuziehen, weil der andere Elternteil die Familie im Stich gelassen hat? Macht man diesen allein Erziehenden nicht indirekt einen Vorwurf und stigmatisiert ihre Kinder, wenn man betont, dass für eine gesunde psychische Entwicklung unbedingt beide Eltern nötig sind?

KODJOE: Allein erziehend bedeutet nicht automatisch, dass der andere für das Kind Oberhaupt nicht mehr zur Verfügung steht. Viele Eltern entwickeln nach der Trennung eine neue Form funktionierender Elternbeziehung und arbeiten im Interesse ihrer Kinder zusammen.
Von den Kriegswaisen wissen wir, dass der gefallene Vater häufig weiterhin ein positiver Teil der Familie und der Geschichte des Kindes bleiben konnte. Er war in Erzählungen und Fotos präsent. Diese Identifikation ist erschwert, wenn er ein abgelehnter, ausschließlich negativ besetzter Teil ist.

PH: Was können Psychologen tun, damit ein Elternteil nach der Scheidung nicht beginnt, die Kinder gegen den anderen aufzubringen?

KODJOE: Es gibt keine Eltern, die ihren Kindern wissentlich Schaden zufügen wollen. In der familienerschütternden Krise haben sie ein gesetzlich verbrieftes Recht auf Unterstützung und Beratung. Diese können sie in Anspruch nehmen, um die Beziehung nach der Trennung neu zu gestalten. Konflikte können so gelöst werden, dass die gemeinsame Elternschaft erhalten bleibt und das eigene Leben ohne anhaltenden biographischen Bruch weitergeht.
Im privaten wie auch im öffentlichen Raum fehlt es jedoch an Modellen, mit dem Lebensereignis Scheidung offen umzugehen. Aufgabe der Berater ist es deshalb, die Familien von Bürden wie Schuld und Versagen zu entlasten, Schwarzweißszenarien aufzulösen. Sie müssen den Eltern helfen, eigene Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Eine andere wichtige Aufgabe von Beratern ist, über die Auswirkungen von lang anhaltenden Konflikten der Eltern auf die Kinder zu informieren.

PH: Wie sollte sich die Justiz gegenüber Müttern und Vätern verhalten, die ihre Kinder gegen den ehemaligen Partner aufbringen?

KODJOE: Sie muss klar sagen: Dieser Elternteil verstößt gegen das Wohl und die Rechte des Kindes. Nach unserem Gesetz haben Kinder jetzt das Recht auf Umgang mit beiden Eltern. Oft reicht es schon, wenn der Richter jemandem, der das alleinige Sorgerecht beantragt, klar macht, dass er damit nie die alleinige Verfügungsgewalt hat. Wenn ein Kind als persönlicher Besitz betrachtet wird, kann das Sorgerecht entzogen werden. Die richterliche Autorität bewirkt hier oft Wunder, sie wird jedoch noch zu selten eingesetzt. Für viele Leute stellt der Richter eine Art Vaterfigur dar. Sagt er: Hier endet das Recht des Erwachsenen! Hier beginnt die Freiheit des Kindes!, bewirkt dies oft schon ein Umdenken. Für Sozialarbeiter und Psychologen wird die Arbeit mit diesen Eltern dadurch erheblich leichter.

 

Immer noch gilt: "Wenn die Mutter nicht will, kann man nichts machen..."

PH: Sind sich die deutschen Richter Oberhaupt der Problemlage bewusst? Wissen sie, dass viele Kinder, die den Umgang mit einem Elternteil ablehnen, beeinflusse sind?

KODJOE: Die meisten Richter sind sich des Problems bewusst, denn sie alle haben schon mit solchen Fällen zu tun gehabt. In der Justiz hat ein Umdenken begonnen. Früher galt: Die Kinder gehören zur Mutter. Der Vater hat Umgang mit den Kindern, um sich davon überzeugen zu können, dass es ihnen gut geht. Viele Fachleute sind diesem Paradigma nach wie vor verhaftet. Deshalb gilt häufig: Wenn die Mutter nicht will, kann man nichts machen." Das neue Paradigma sieht die Situation aus der Sicht des Kindes, und diese stellt sich vollkommen anders dar: Kinder wollen im Normalfall Kontakt zu beiden Eltern, natürlich nur, wenn sie nicht misshandelt oder missbraucht wurden. Diese Erkenntnis fordert in Zukunft einen anderen Umgang mit Scheidungsfällen.
Allerdings muss man auch sehen, wie die Realität der deutschen Justiz aussieht: Ein Richter sagte mir vor kurzem, dass ein deutscher Familienrichter jährlich in 250 Arbeitstagen etwa 350 Fälle bearbeitet. Somit hat ein Richter für einen Fall maximal fünf Stunden zur Verfügung. Die Anhörung des Kindes dauert im Schnitt fünf bis zehn Minuten. In dieser Zeit kann ein Richter einfach nicht den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden, mit denen er es zu tun hat.

PH: In den USA findet das Syndrom der Elternentfremdung bereits Erwähnung in Urteilen und Gutachten. Geht man dort Ihrer Meinung nach erfolgreicher gegen Elternentfremdung vor?

KODJOE: In den US-Staaten ist man unterschiedlich fortschrittlich. Elternentfremdung ist in vielen Staaten justiziabel. Weigert sich ein Elternteil, seine Erziehungskompetenz dafür einzusetzen, dass die Kinder eine Beziehung zu beiden Eltern haben, dann wird in vielen Fällen dem anderen Elternteil das Alleinsorgerecht zugesprochen.

PH: Ist dies Vorgehen nicht zu radikal? Schließlich hat das Kind die ablehnende Haltung gegenüber dem abwesenden Elternteil verinnerlicht. Wird es nun gezwungen, zu diesem zu ziehen, so hat dies möglicherweise ebenfalls schwer wiegende Auswirkungen auf seine Psyche.

KODJOE: In den USA hat man positive Erfahrungen mit diesem radikalen Vorgehen gemacht. Die Kinder legen ihre feindliche Haltung sehr schnell ab. Nach kurzer Zeit ist meist auch wieder der Umgang mit dem ehemals programmierenden Elternteil möglich. Die Kinder verkraften den radikalen Übergang besser als den "weichen", bei dem man das Kind beispielsweise bei einer neutralen dritten Person oder in einem Heim unterbrachte. Im Nachhinein scheint es einleuchtend, dass ein weicher Übergang mehr Probleme für das Kind mit sich bringt. Es bekommt vermittelt, dass mit dem anderen Elternteil doch etwas nicht stimmen würde, sonst hätte es ja sofort zu ihm gekonnt. Allerdings ist in solchen Fällen eine sorgfältige Diagnostik und Beratung nötig.
Deutsche Richter dagegen können Beratung nur empfehlen, aber nicht anordnen. In den USA können die Eltern verpflichtet werden, sich in eine Therapie zu begeben. Es gibt entsprechende Einrichtungen speziell für konflikthafte Trennungen, wo Eltern und Kinder beraten werden. Bei uns existieren familientherapeutische Einrichtungen, die aber für diese Fälle noch nicht genutzt werden.

PH: Wären Sie dafür, in Konfliktfällen eine Pflichtberatung einzuführen?

KODJOE: Das Wort Pflichtberatung klingt negativ. Aber in Scheidungsfällen hinterfragt ja auch niemand, dass die Pflicht besteht, sich von einem Anwalt beraten zu lassen. Wenn Kinder und die betroffenen Eltern leiden, ist Beratung nötig. Es gibt schon viele gute Modelle dafür. Zum Beispiel könnten Eltern verpflichtet werden, vor dem juristischen Procedere eine Mediation zu machen; oder sie müssen einen Berater konsultieren, um zu erfahren, was ihnen helfen kann.

PH: Was geschieht, wenn entfremdete Kinder doch plötzlich wieder Interesse gegenüber dem ausgegrenzten Elternteil empfinden? Wenn sie auf einmal den Wunsch verspüren, wieder Kontakt aufzunehmen?

KODJOE: Häufig suchen junge Erwachsene den Kontakt zum verlorenen Elternteil, um zu prüfen, ob das wirklich ein "verlogener" Vater ist oder eine "unmoralische" Mutter. Dann zeigt sich oft ein Bumerangeffekt für den programmierenden Elternteil: Die Kinder sind aufgewachsenen mit der Überzeugung, der abwesende Elternteil habe sich nie interessiert, nie etwas für die Familie getan. Suchen sie ihn dann auf, so kann er dies oft allein anhand eines dicken Aktenordners widerlegen. In diesem Moment können diese jungen Menschen die Vertrauensbeziehung zu der Person verlieren, mit der sie gelebt haben. Dann nämlich, wenn sie feststellen, dass alles auf einer Lüge aufgebaut war. Sie erkennen schmerzlich, dass sich die verlorene Kindheit mit dem einen Elternteil nicht mehr nachholen lässt.
Bei Erwachsenen, die diese Erfahrung gemacht haben, spüre ich eine tiefe Traurigkeit. Sie hätten eine konfliktreiche Beziehung vorgezogen und die Entscheidung über die Art und Ausgestaltung der Beziehung lieber selbst getroffen.
Letztendlich wissen wir aber wenig über die rückblickende Sichtweise von Erwachsenen, die als Kinder einen Elternteil ablehnten, obwohl sie zu ihm vor der Trennung eine normale, vertrauensvolle Beziehung hatten.

Mit Ursula Ofuatey-Kodjoe sprach Julia Weidenbach

Ursula Ofuatey-Kodjoe ist Diplomsozialarbeiterin, Diplompsychologin und Mediatorin, Sie arbeitet in der Trennungs- und Scheidungsberatung, als Sachverständige in Sorge- und Umgangskonflikten und in der Fortbildung. Außerdem ist sie Dozentin des Verbandes Anwalt des Kindes.

Für ihre Forschung zum Syndrom der Elternentfremdung bittet Frau Kodjoe geschiedene und getrennt lebende Elter mit ihr in Verbindung zu treten, wenn sie:

  • ihre Gründe haben, warum ihr Kind zum anderen Elternteil keinen Kontakt mehr pflegen soll und diesen unterbinden;
  • keinen Kontakt mehr zu ihrem Kind haben, weil das Kind nicht will.

Betroffene (junge Erwachsene) mögen sich melden, wenn sie:

  • sich als Kinder oder Jugendliche auf die Seite eines Elternteils schlugen und den Kontakt zum anderen ablehnten oder verloren.

Ursula Ofuatey-Kodjoe, Fichtenstraße 29, 79194 Gundelfingen, Tel.: 0761/4001277.