... In Zentralamerika führte dieses Dilemma zu einer heute noch praktizierten Lösung, nämlich der paradoxen Maxime: »Se obedece, pero no se cumple« (man gehorcht, aber man
führt [die Weisung] nicht aus), und es dürfte kein Zweifel bestehen, dass dank dieser Lösung die mittelamerikanischen Besitzungen nicht wegen, sondern trotz der
kaiserlichen Machtsprüche blühten. Zwei Jahrhunderte später wurde dieser Behelfslösung von Kaiserin Maria Theresia durch die Einführung des nach ihr benannten Ordens
offizielle Anerkennung verliehen. Der Maria-Theresien-Orden blieb bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (und in Ungarn sogar bis in den Zweiten Weltkrieg hinein) die höchste
militärische Tapferkeitsauszeichnung. Mit erfrischender Absurdität war er jenen Offizieren vorbehalten, die aus eigener Entscheidung und unter Missachtung erhaltener
Befehle den Verlauf einer Schlacht zum Sieg lenkten. Ging ihre Eigenmächtigkeit aber schief, so blühte ihnen selbstverständlich ein Kriegsgerichtsverfahren wegen
Ungehorsams. Der Orden war damit das bewundernswerte Beispiel einer offiziellen Gegenparadoxie, würdig einer Nation, deren Einstellung zur Übermacht der anderen (oder des
Schicksals) immer schon vom Motto geprägt war: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.
Eine ihrer Struktur nach ähnliche, aber noch viel unhaltbarere Paradoxie besteht in einer anderen, allerdings fiktiven militärischen Situation, nämlich in Joseph Hellers
Roman »Catch-22«. Yossarian, der als Pilot bei einem amerikanischen Bombergeschwader im Mittelmeerraum dient, hält die seelische Belastung der täglichen Frontflüge
nicht mehr aus und sucht verzweifelt nach einem Ausweg. Außer dem Heldentod steht ihm aber nur die Möglichkeit offen, sich aus psychiatrischen Gründen für dienstunfähig
erklären zu lassen. Er fühlt in dieser Angelegenheit beim Chefarzt, Dr. Daneeka, vor, macht aber vorsichtshalber nicht sich selbst, sondern einen anderen Piloten namens
Orr zum Gegenstand seiner Erkundigung:
»Ist Orr verrückt?« »Klar ist er verrückt«, sagte Doc Daneeka. »Kannst du ihn fluguntauglich schreiben?« »Klar kann ich das. Er muss aber erst darum bitten. So verlangt es die Vorschrift.« »Warum bittet er dich denn nicht darum?« »Weil er verrückt ist«, sagte Doc Daneeka. »Er muss einfach verrückt sein, sonst würde er nicht immer wieder Einsätze fliegen, obgleich er oft genug knapp mit dem
Leben davongekommen ist. Selbstverständlich kann ich Orr fluguntauglich schreiben. Er muss mich aber erst darum bitten.« »Mehr braucht er nicht zu tun, um fluguntauglich geschrieben zu werden?« »Nein, mehr nicht. Er braucht mich nur zu bitten.« »Und dann kannst du ihn fluguntauglich schreiben?« fragte Yossarian. »Nein. Dann kann ich es nicht mehr.« »Heißt das, dass die Sache einen Haken hat?« »Klar hat sie einen Haken«, erwiderte Doc Daneeka. »Den IKS-Haken. Wer den Wunsch hat, sich vom Fronteinsatz zu drücken, kann nicht verrückt sein.«
Da war also ein Haken, eben der besagte Catch-22, dessen Bedeutung in Hellers eigenen Worten darin bestand,
dass die Sorge um die eigene Sicherheit angesichts realer, unmittelbarer Gefahr als Beweis für fehlerloses Funktionieren des Gehirns zu werten sei. Orr war verrückt
und konnte fluguntauglich geschrieben werden. Er brauchte nichts weiter zu tun, als ein entsprechendes Gesuch zu machen; tat er dies aber, so galt er nicht länger mehr als
verrückt und würde weitere Einsätze fliegen müssen. Orr wäre verrückt, wenn er noch weitere Einsätze flöge, und bei Verstand, wenn er das ablehnte, doch wenn er bei
Verstand war, musste er eben fliegen. Flog er diese Einsätze, so war er verrückt und brauchte nicht zu fliegen; weigerte er sich aber zu fliegen, so musste er für geistig
gesund gelten und war daher verpflichtet zu fliegen. Die unübertreffliche Schlichtheit dieser Klausel der IKS beeindruckte Yossarian zutiefst und er stieß einen
bewundernden Pfiff aus. »Das ist schon so ein Haken, dieser IKS-Haken«, bemerkte er. »Einen besseren findest du nicht«, stimmte Doc Daneeka zu. [66]
Zugegeben, das Beispiel ist fiktiv, und es gibt den Catch-22 in der amerikanischen Luftwaffe nicht. Es handelt sich um eine Art Karikatur militärischer Logik, doch wie bei
jeder guten Karikatur wird der Kern der Sache getroffen: Die Wirklichkeit des Kriegs oder jede andere, auf totalitärer Gewalt beruhende Wirklichkeit ist von einem
Wahnwitz, dem sich niemand entziehen kann, und in dieser Wirklichkeit wird Normalität zum Ausdruck von Wahn oder Heimtücke umgedeutet. Dabei ist es gleichgültig, ob die
Wirklichkeit die der Kanzel eines Bombenflugzeugs oder eines »Volksgerichtshofs« ist, der die reaktionärste oder revolutionärste Justiz übt - menschliche Werte und die
Gesetze der Kommunikation werden auf den Kopf gestellt, und die Umnachtung der Konfusion befällt Opfer wie Henker.